Rezension über:

Hubertus Seibert / Gertrud Thoma (Hgg.): Von Sachsen bis Jerusalem. Menschen und Institutionen im Wandel der Zeit. Festschrift für Wolfgang Giese zum 65. Geburtstag, München: Utz Verlag 2004, 399 S., ISBN 978-3-8316-0312-1, EUR 68,00
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Rezension von:
Ernst-Dieter Hehl
Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Ernst-Dieter Hehl: Rezension von: Hubertus Seibert / Gertrud Thoma (Hgg.): Von Sachsen bis Jerusalem. Menschen und Institutionen im Wandel der Zeit. Festschrift für Wolfgang Giese zum 65. Geburtstag, München: Utz Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 6 [15.06.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/06/6051.html


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Hubertus Seibert / Gertrud Thoma (Hgg.): Von Sachsen bis Jerusalem. Menschen und Institutionen im Wandel der Zeit

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Von Sachsen bis Jerusalem: das ist eine weite wissenschaftliche Reise, auf die die Herausgeber der Festschrift für den Münchener Mediävisten Wolfgang Giese den Leser mitnehmen, und eine lange Reise durch viele Jahrhunderte. Die Stationen dieser Reise sind vielfältig und in einer Landschaft, in Bayern, besonders häufig. Manches Jahrhundert wird durcheilt, ohne anzuhalten. Darüber zu räsonieren lohnt nicht, die wissenschaftliche Reise in einer Festsschrift ist oft ebenso unberechenbar wie heute die Fahrt mit der Bahn. Die Stationen richten sich nach den Interessen des Geehrten und der Beteiligten, auch hier kann der Berichterstatter, statt über den Fahrplan nachzugrübeln, den jeweiligen Halt dazu nutzen, die Aussicht, die dieser bietet, genauer zu beschreiben.

Den übrigen, im wesentlichen chronologisch angeordneten Beiträgen vorangestellt sind die Ausführungen Martin Kintzingers über den "Lehrer des Mittelalters". Darin weist er auf grundsätzliche Diskussionen hin, wie universitäre Lehre vonstatten gehe. Wissen, Freiheit zum Wissen und Wissensvermittlung sind die Grundbegriffe und könnten es auch heute noch für den Lernenden, Lehrenden und Forschenden sein, der darüber nachdenkt, was er eigentlich tut.

In die Epoche der Antike führen die folgenden beiden Beiträge: Jakob Seibert macht einen Besuch der Achämidengräber durch Alexander plausibel und geht am Beispiel der Ereignisse am Grab des Kyros der Frage nach, ob Alexanders Verhalten den Persern als Grabschändung erscheinen konnte. Tanja S. Scheer lehnt in ihren Betrachtungen über "'Pilger' in griechisch-römischer Antike und christlicher Spätantike" Parallelisierungen zwischen der mittelalterlichen Pilgerfahrt und antiken Reisen zu religiösen Orten ab, da die Antike Reisen zu religiösen Stätten kein religiöses Verdienst zuschrieb. Volker Bierbrauer schlägt die Brücke vom Altertum zum Mittelalter, wenn er die "Keszthely-Kultur und die romanische Kontinuität in Westungarn (5.-8. Jh.)" in den Blick nimmt und die Berücksichtigung der Verhältnisse im Alpenraum fordert, woraus sich eine (von großen Teilen der neueren ungarischen Forschung abgelehnte) romanische Kontinuität zumindest als wahrscheinlich erweise.

Das mittelalterliche Reich bis in die Zeit der Salier und seine Regionen, insbesondere Bayern, stehen im Zentrum der folgenden Beiträge: Hans-Werner Goetz untersucht drei Phasen der Wahrnehmung Sachsens durch fränkische und ottonische Geschichtsschreiber und unterscheidet dabei drei Phasen: vor der fränkischen Eroberung, die Zeit der Integration in das Frankenreich, die Zeit des sächsischen Königtums seit 919. Er beobachtet einen frühen, bereits vor der Zeit Karls des Großen einsetzenden Perspektivenwandel vom "Volk" zum "Territorium / Land", wobei beides aber eng miteinander verknüpft blieb. Anhand der kaiserlichen Darstellungsformen am Hof Ottos III. bricht Georg Reichlmayr eine Lanze für die Existenz einer Herrschaftsvorstellung, die sich unter dem Stichwort "renovatio" am römisch-christlichen Kaisertum orientierte. Rudolf Schieffer geht den Geschichten von einer Vergiftung Ottos III. nach, deren Entstehung und Ausschmückung dadurch erleichtert wurde, dass die Quellen, die zutreffend vom Tod des Kaisers berichten, nur schmal überliefert sind. Hubertus Seibert betont den Anschluss Heinrichs des Zänkers an die Herzogstradition der Liutpoldinger, die über seine Mutter Judith vermittelt war. Das Bild des Herzogs im Regelbuch für das Damenstift Niedermünster in Regensburg stellt Heinrich in diese mütterliche Linie und nicht in die väterliche, auf das regierende ottonische Königshaus zurückgehende. Wilhelm Störmer zeigt demgegenüber einen grundlegenden Wandel auf, den die Salier (Ansätzen Heinrichs II. folgend) herbeiführten, indem sie Bayern eng an die Krone banden. Von 1072 bis 1096 hatte Heinrich IV. die Herzogswürde persönlich inne. Den Parteibildungen unter weltlichen und kirchlichen Großen für oder gegen den Herrscher geht Störmer im Einzelnen nach. 1086 schlugen die Verhältnisse zu Ungunsten Heinrichs um, was Störmer aus einer zu starken Bevorzugung der Eppensteiner erklärt. Claudia Zeys Ausführungen zur "Trennungsabsicht Heinrichs IV. im Jahr 1069" weisen der Anfrage Heinrichs bei Erzbischof Siegfrieds von Mainz zu dem Scheidungsbegehren einen hohen Wert zu, denn dieser Brief an Papst Alexander II. spiegele deutlich die kirchenrechtlichen Schwierigkeiten. Burchard von Worms hatte nämlich die Wiederverheiratung des Mannes, dessen unvollzogene Ehe aufgelöst war, untersagt und ältere kirchenrechtliche Traditionen so verschärft, dass fingierte Aussagen des Mannes nutzlos wurden. Der Aufsatz ist ein Lehrstück: Vor dem (moralischen) Urteil über die Handelnden - auch wenn solche in den Quellen stehen - hat eine Untersuchung der Rahmenbedingungen des Handelns zu stehen.

Die folgenden Aufsätze weiten den Blick auf Europa: Eduard Hlawitschka betrachtet den "Lebensweg des englischen Prinzen Eduard des Exilierten und die Ahnen der Hl. Margarete von Schottland". Er nimmt für diesen Sohn des englischen Königs Edmund Eisenseite Schweden, Russland und Ungarn als Exilstationen an. In Russland habe Eduard seine Frau Agatha gefunden, die wahrscheinlich eine Tochter Jaroslavs I. war und nicht in verwandtschaftlicher Beziehung zu den römisch-deutschen Herrschern Heinrich II. bzw. Heinrich III. stand. Aus dieser Ehe entstammte Margarete, die 1068/70 den schottischen König Malcolm III. heiratete. Ludwig Hammermayer stellt mit positivem Gesamturteil das Buch von Helmut Flachenecker über die "Schottenklöster" (1995) vor, bezweifelt aber dessen These, "die irischen Benediktiner im Reich hätten sich [...] bewusst und auf Dauer isoliert und in eine Randexistenz begeben" (219). Franz Tinnefeld untersucht ein "byzantinisch-normannisches Heiratsbündnis im Jahr 1074". Neben dem Ehevertrag behandelt er noch zwei Briefe Kaiser Michaels VII. an Robert Guiskard zu dem Heiratsprojekt. Überliefert sind die drei Stücke im Werk des Michael Psellos, der ihren Text entworfen hatte, sie aber nun nach literarischen Kriterien glättete. Vor allem die abstrakten Benennungen des Kaisers (unsere / meine Majestät) hat er mehrmals durch persönliche Ich- / Wir-Formeln ersetzt.

Den Übergang zum nächsten Themenblock, der die Stauferzeit behandelt, bilden die Überlegungen von Wolfgang Jahn zu privatem und königlichem Salinenbesitz in Süditalien, wobei sich erster vor allem in Apulien findet. Knut Görich lenkt im Zusammenhang mit Treffen Friedrich Barbarossas mit Papst Alexander III. in Venedig im Juli 1177 die Aufmerksamkeit auf die Absolution Barbarossas auf dem Lido, bevor dieser in großem Zeremoniell nach Venedig eingeholt wurde und dort mit Alexander zusammentraf. Die Prostration, die der Kaiser nun dem Papst erwies, war deshalb nicht Bestandteil eines Bußrituals, sondern demonstrierte "persönliche Demut, Frömmigkeit und Friedensabsicht" (263), auch wenn sich Barbarossa in voller Länge auf den Boden warf und damit den Formen der Bußprostration folgte. Walter Koch weist auf Eigenheiten der frühen Urkunden Friedrichs II. für Sizilien hin, die bestimmten Notaren zuzuweisen sind, obwohl diese Urkunden gemäß normannischer Kanzleitradition in hohem Maße formalisiert waren.

In die Zeit nach dem "Großen Interregnum" führt der Aufsatz von Michael Menzel. Er zeigt die Schwierigkeiten auf, die ein Testament verursachte: Ludwig des Bayern Mutter, die Herzogin Mathilde, hatte nämlich die landesherrlichen Rechte an dem Markt Dießen dem dortigen Stift übertragen. Verwirklicht wurde das Testament nicht. Denn Ludwig der Bayer hat die landesherrlichen Rechte an Dießen nicht aufgegeben, es gelang ihm sogar das Stift aus der niederen Gerichtsbarkeit über den Markt zu verdrängen. Gertrud Thoma stellt eine Freisinger Quelle über im Zusammenhang mit dem Kreuzzug zu erhebenden Zehnten vor. Bischof Konrad III. hat nach seinem Amtsantritt 1314 entsprechende Auflistungen zu den Maßnahmen seiner Vorgänger in ein "Notizbuch" eingetragen. Die Aufstellungen betreffen weltliche Besitztümer des Bistums und zeigen, wie der Amtswechsel von Bischof Emicho zu Gottfried 1311 zu einem Zusammenbruch der Einnahmen geführt hatte - ein gutes Zeugnis für die Begehrlichkeiten der mit Freising konkurrierenden Herrschaften. Roland Pauler wertet den Streit zwischen Heinrich VII. und Clemens V., der von dem künftigen Kaiser ein iuramentum fidelitatis gefordert hatte, als einen Wendepunkt in den päpstlich-kaiserlichen Beziehungen des Mittelalters. Denn: "Jetzt erst kam allmählich ein Prozess in Gang, in welchem den Königen und ihren Wählern die juristische Relevanz von Formulierungen und Akten bewusst geworden ist, die zuvor als Formalitäten gedankenlos vollzogen worden waren" (322). Der These von der Wende soll nicht widersprochen werden, doch warum soll das alles zuvor "gedankenlos" vollzogene "Formalität" gewesen sein? Solcher Sicht der Dinge widersprechen jedenfalls die aktuellen Forschungen über Zeremoniell und Ritual. Claudia Märtl ordnet den Ausbau Pienas, des Geburtsorts Papst Pius' II., zu einer Renaissancestadt der Erhebung Sienas zum Erzbistum zu. Als geplanter Sitz eines (Suffragan-)Bischofs musste das künftige Pienza städtischen Charakter haben. Giliforte hatte sich in Pienza wie andere aus der Umgebung des Papstes ein Haus errichten lassen. Ein Inventar seiner Habe ist überliefert (336-344: Abdruck der Nachlassregelung). Die Vermögenslage Gilifortes scheint dem Bauvorhaben nicht angemessen gewesen zu sein. Bei Personen aus dem Umfeld der Piccolomini hat er sich anscheinend verschuldet, an einen Piccolomini fiel nach seinem Tod auch das Haus. Martina Giese enttarnt den Handschriftenjäger Sebastian Ranck als den Pfarrer von Beuren. Ausgangspunkt ist die Wiener Handschrift 5213 mit einer Ableitung des Falkenbuchs Heinrich Münsingers, die Ranck sich selbst zuschreibt und dabei den "Ideengeber" unterschlägt. Man hat Ranck deshalb unter den Mitgliedern des kaiserlichen Jagdpersonals gesucht. Aber er war ein Pfarrer, dem Frau Giese mehrere Handschriften zuschreiben kann. Maximilian hatte mit ihm einen an Handschriften interessierten und kundigen "Jäger" ausgeschickt, ganz so wie es Ranck in der Vorrede der Wiener Handschrift beschreibt.

Etwas aus dem thematischen Rahmen fällt der Beitrag von Uta Lindgren über "Die Auseinandersetzungen der Münchener Ärzteschaft mit einer Ortskrankenkasse (IV) in den Jahren 1900/1901, der ein fast aktuelles Problem behandelt: die Finanzierung medizinischer Leistungen. Aber es wurde mit harten Bandagen gekämpft, wenn die vorgestellte Krankenkasse das Honorar für die Ärzte um ein Viertel senken wollte. In der Honorarfrage kam es zu einer Einigung, ob und wie das Problem der unzureichenden Einnahmen der Kasse (die anscheinend unverhältnismäßig hohe Verwaltungskosten hatte) gelöst wurde, erfährt der Leser nicht.

Den Abschluss des bunten Aufsatzreigens bilden die Überlegungen Josef Kirmeiers über "Vermittlungsstrategien mittelalterlicher Geschichte am Beispiel der Ausstellung 'Kaiser Heinrich' 2002 in Bamberg. Kirmeier preist das Gesamtkonzept der Ausstellung mit seinen teilweise inszenierten Präsentationsformen; entscheidend für "die Bewertung der in Bamberg gewählten Vermittlungsstrategie bleibt die Frage inwieweit man dem vorgegeben bildungspolitischen Auftrag insgesamt nachgekommen ist" (376). Martin Kintzinger hat in dem einleitenden Aufsatz die Frage gestellt "Können [...] Ausstellungsmacher, die das Gesicht des Mittelalters zeigen, eher auf öffentliches Interesse rechnen als Lehrer, die das Wissen vom Mittelalter vermitteln?" (1 f.). Das mag so sein. Dann aber sollten Ausstellungsmacher den Erfolg ihrer Ausstellung danach bemessen, ob es ihnen gelungen ist, solches Wissen zu vermitteln - ein Wissen, das nicht allein durch den Forschungsstand "vorgegeben" ist (erst recht nicht durch einen bildungspolitischen Auftrag), sondern durch das spezifische Zusammentragen und Ordnen (meinetwegen auch Inszenieren) in einer Ausstellung bei Gelingen auch ein neues für den "Fachmann", als neues erfahrbar für den "Laien".

Manchmal als "Fachmann", meistens als "Laie" hat sich der Rezensent den Aufsätzen dieser Festschrift genähert. Neues und Anregendes hat er oft gelesen, und sicher hat er bei manchem, das eigentlich Neue gar nicht bemerkt. Aber bei einer so langen und weiten Reise kann das gar nicht anders sein.

Ernst-Dieter Hehl