Anne Heinig: Die Krise des Historismus in der deutschen Sakraldekoration im späten 19. Jahrhundert, Regensburg: Schnell & Steiner 2004, 284 S., 31 Farb-, 101 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-1664-5, EUR 66,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Winfried Nerdinger / Werner Oechslin (Hgg.): Gottfried Semper (1803-1879). Architektur und Wissenschaft. Ausstellungs-Katalog Architekturmuseum der TU München, Pinakothek der Moderne München / Museum für Gestaltung Zürich 2003/2004, München: Prestel 2003
Tanja Jankowiak: Architektur und Tod. Zum architektonischen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Eine Kulturgeschichte, München: Wilhelm Fink 2010
Ole W. Fischer: Nietzsches Schatten. Henry van der Velde - von Philosophie zu Form, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2013
Die kirchliche Kunst hat mit dem Problem zu kämpfen, Tradition und überlieferte christliche Ikonografie aufrechterhalten zu müssen und sich gleichzeitig an innovative Kunstströmungen und zeitgemäße Glaubensbilder anpassen zu wollen. Dass dieser Spagat besonders im ausgehenden Historismus des 19. Jahrhunderts ein akrobatisches Unterfangen war, ist offensichtlich: Die historischen Stilbilder begannen in ihrer eindeutigen Symbolhaftigkeit, besonders auch für das Sakrale, zu bröckeln, und die Beliebigkeit des Stilpluralismus schien nicht mehr für klare religiöse Aussagen im Kirchenraum geeignet. Des Weiteren führten liturgische und konfessionelle Reformbewegungen zu Forderungen nach neuen Definitionen christlicher Kunst, die sich von der Profanisierung des säkularisierten Zeitalters deutlich absetzen sollten.
Mit dieser Krisensituation hat sich Anne Heinig in ihrer Kieler Dissertation am Beispiel der deutschen "Sakraldekoration" beschäftigt. Gemeint ist damit nicht nur der Schmuck und die Ausstattung von Kirchenbauten und -räumen, sondern gattungsübergreifend das Wechselverhältnis zwischen Architektur und Wand- bzw. Deckenmalerei (11). Darüber hinaus bezog die Autorin neben der Stildiskussion von 1870 bis 1914 die Kirchen- und Theologiegeschichte der Zeit mit ein und stellte diesen Diskurs ausführlich durch die Auswertung der kirchlichen Kunstpublizistik des 19. Jahrhunderts dar. Sie konnte hier vor allem auf die Forschungsarbeiten von Weiß und Smitmans aus den 1980er-Jahren zurückgreifen. [1] Den zwei Hauptkapiteln der Arbeit, den exemplarischen Einzelstudien zur katholischen und evangelischen Sakraldekoration sowie der Rezeptionsgeschichte in den kirchlichen Kunstperiodika, sind zwei einführende Abschnitte vorangestellt, welche die Kirchenbauvorstellungen des frühen Historismus und die Rolle der Kirchen des 19. Jahrhunderts als Auftraggeber der Kunst skizzieren.
Besonders die Introduktion zum Frühhistorismus vermag nicht wirklich neue Fragestellungen zu bieten, zumal das Augenmerk nicht von Beginn an auf das Spezifische der Sakraldekoration fokussiert wird. Stattdessen liest man an dieser Stelle das übliche Resumée, angefangen mit Goethes Verbeugung vor dem Straßburger Münster bis hin zu Hübschs Plädoyer für den Rundbogenstil. Der Vollständigkeit halber hätte in diesem Zusammenhang eine der aktuellen und wichtigen Arbeiten zur Theorie der Neugotik in Deutschland von Klaus Niehr erwähnt werden müssen. [2] Der nachfolgende Überblick über die Kirchengeschichte, die Anne Heinig in fünf Phasen von der Neuorientierung nach der Säkularisation bis zur Moderne aufteilt, bietet dann schon eher effektives Material für die zentralen Überlegungen hinsichtlich des Konflikts zwischen Historisierung und Zeitlosigkeit der christlichen Sakraldekoration. Beispielhaft sei hier der Ultramontanismus herausgegriffen, der mit seinem neuthomistischen Ansatz den Historismus als "Prinzip der Bewusstseinsbildung" ablehnte (40) oder die Beuroner Kongregation, die für eine urchristliche Gemeindeliturgie eintrat, Symbolismus sowie Formabstraktion in der sakralen Kunst durchaus befürwortete (52) und ab 1894 mit einer eigenen Kunstschule aufwartete. [3] Die evangelische Kirchenbautheorie verfuhr am Ende des 19. Jahrhunderts nach der Prämisse "Liturgie als Bauherrin" und veränderte damit den Blickwinkel auf die Sakralarchitektur: Nicht mehr der nationale Denkmalcharakter, sondern die Funktion als Gemeindekirche mit kommunikativem Programm am Außenbau und im Inneren sollte ausschlaggebend sein (61). In diesem Kontext wären dann auch die Entwicklungen hin zu einer raum- und flächengebundenen Monumentalmalerei sowie der Einbindung von Raumkunst-Modellen im Kirchenraum des Späthistorismus einzuordnen (68-72).
Die Einzelstudien Anne Heinigs zu jeweils fünf katholischen und evangelischen Sakralbauten und ihren Dekorationsprogrammen sind nach den Angaben der Autorin so ausgewählt, dass sie die verschiedenen Tendenzen in der Sakralkunst zu repräsentieren im Stande sind. Doch für den Leser eröffnen sich diese unterschiedlichen Parameter nur schwer, da die Ausführungen sich zu häufig in detailreichen und teilweise unstrukturierten Beschreibungen verlieren. Aufgrund des fehlenden oder nur in schlechten Reproduktionen erhaltenen Bildmaterials (die Autorin weist eingangs korrekterweise darauf hin), wird die Gegenüberstellung der Dekorationsprogramme erschwert. Die katholischen Beispielbauten demonstrieren erstens ein Raumprogramm im Sinne des archäologisch orientieren Historismus (Wallfahrtsbasilika Kevelaer), zweitens ein Biblia Paupera-Konzept für den "Verständnishorizont einer Arbeitergemeinde" (Herz-Jesu-Kirche, Berlin, Prenzlauer Berg, 102), drittens einen reformerischen Ansatz mit stilisierten, ornamentierten Malereimotiven (Mauruskapelle, Beuron, Donautal), viertens einen "horror vacui" mit ornamentaler Verkleidung der architektonischen Glieder (St. Anna, München-Lehel) und fünftens eine Raumkunstgestaltung mit Einbindung kunsthandwerklicher Elemente (St. Nikolaus, Essen-Stoppenberg). Für die evangelischen Beispiele (Friedenskirche, Düsseldorf; Ringkirche, Wiesbaden; Lutherkirche, Wiesbaden; Erlöserkirche, München-Schwabing; Christuskirche, Dresden-Strehlen) arbeitet Anne Heinig ähnliche Koordinaten heraus, wobei hier die Divergenz zwischen narrativer Profandarstellung und streng hieratischer Ikonisierung stellenweise noch extremer ausfällt.
Im abschließenden Kapitel zur Bewertung der Sakraldekoration in der zeitgenössischen kirchlichen Kunstpublizistik werden nochmals einige inhaltliche und formale Kriterien der "Kirchenmalerei" herausgearbeitet. Aber auch diese Ergebnisse verwässern etwas aufgrund zu vieler aneinander gereihter Zitate, sodass der Rückbezug und Transfer auf die Themenstellung der Bautenstudien dann schwieriger nachvollziehbar wird. Insgesamt also eine von der Materialbearbeitung und Fragestellung durchaus wertvolle Untersuchung für eine weitere Ausdifferenzierung der Sakralarchitektur und -dekoration des Späthistorismus unter besonderer Berücksichtigung der kirchengeschichtlichen Belange, deren Resultate jedoch an einigen Stellen prägnanter hätten formuliert werden können.
Anmerkungen:
[1] Thomas Weiß: Stildiskussion zur Sakralarchitektur des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Diss. München 1983; Adolf Smitmans: Die christliche Malerei am Ausgang des 19. Jahrhunderts - Theorie und Kritik. Eine Untersuchung der deutschsprachigen Periodika 1870 bis 1914 (= Kölner Forschungen zu Kunst und Altertum 2), Sankt Augustin 1980.
[2] Klaus Niehr: Gotikbilder - Gotiktheorien. Studien zur Wahrnehmung und Erforschung mittelalterlicher Architektur in Deutschland zwischen ca. 1750 und 1850, Berlin 1999.
[3] Harald Siebenmorgen: Die Anfänge der "Beuroner Kunstschule". Peter Lenz und Jakob Würger 1850-1875. Ein Beitrag zur Genese der Formabstraktion in der Moderne, Sigmaringen 1983.
Stefanie Lieb