Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück, Berlin: Ullstein Verlag 2003, 288 S., ISBN 978-3-550-07574-2, EUR 22,00
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Trotz der Flut von Veröffentlichungen zur Vertreibung, mit denen der Buchmarkt in jüngster Zeit regelrecht überschwemmt worden ist, lässt die Studie von Peter Glotz aufhorchen. Schließlich hat sich der streitbare Sozialdemokrat als Politiker wie als Hochschulmanager den Ruf eines scharfer Analytikers und Querdenkers erworben, der gerne wider den Stachel löckt. Sein Wort hat zweifellos auch in der Debatte um die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg Gewicht, wirkt er doch neben Erika Steinbach als maßgeblicher Promoter des geplanten "Zentrums gegen Vertreibung", um das zurzeit national und international heftig gestritten wird.
Das Buch, das den Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Vertreibung der Deutschen chronologisch schildert und dabei auch auf die weiter zurückliegende "Vorgeschichte" seit der Besiedelung Böhmens im Mittelalter eingeht, steht damit allerdings nur in mittelbarem Zusammenhang. Glotz, selbst mit sechs Jahren Opfer der Vertreibung aus der Tschechoslowakei, wollte "keine historische Arbeit, sondern ein politisches Buch" schreiben, "ein Buch gegen den Nationalismus, diese Perversion von Loyalitäts- und Zugehörigkeitsgefühlen" (11). Am Beispiel Böhmen will er veranschaulichen, wie Nationalismus entsteht und welch zerstörerische Kraft er besitzt, um "böhmische Lehrstücke für die Zukunft so weit wie möglich auszuschließen" (12). Aufklärung im besten Sinne des Wortes, das ist das eine Leitmotiv, das Peter Glotz umtreibt. Das andere ist historische Gerechtigkeit: Glotz geht es nicht darum, die eine Seite anzuklagen oder die andere zu verteidigen, sondern einen Prozess zu erklären, an dessen Ende - und nicht nur dort - millionenfaches unermessliches Leid stand.
Man kann nun trefflich darüber streiten, ob der Ansatz, das Phänomen ethnischer Konflikte an einem konkreten Beispiel zu analysieren, weiter führt als ein komparatives Vorgehen - diesen Weg hat die jüngere Vertreibungsforschung bevorzugt eingeschlagen. [1] Das Ziel von Peter Glotz ist jedenfalls aller Ehren wert. Dass er es nicht oder zumindest nur eingeschränkt erreicht, liegt an drei Faktoren:
Erstens versucht Glotz, den Konflikt zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen sowie die daraus resultierenden dramatischen Folgen allein mit dem Phänomen des Nationalismus zu erklären. Andere notwendige Voraussetzungen, insbesondere den Staat bzw. die enorme Ausweitung der staatlichen Handlungssphären [2], aber auch Wissenschaft und Ökonomie, bleiben weitgehend ausgeblendet. Hinzu kommt, dass es den Nationalismus in historischer Perspektive nicht gegeben hat. Obwohl Glotz im Literaturverzeichnis eine Reihe von Titeln zur Nationalismustheorie aufgelistet hat, liegt seiner Analyse keine Nationalismustypologie zu Grunde. So setzt Glotz den schwärmerischen Risorgimento-Nationalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - ein emanzipatorisches Konzept, das durchaus die Daseinsberechtigung anderer Völker oder Nationen anerkannte - in eins mit dem integralen Nationalismus, der in der ersten Hälfte des 20.Jahrundert seine fatale Wirkung entfaltete - erst hier wurde der Stellenwert der eigenen Nation biologistisch und rassistisch so überhöht, dass für die Ansprüche anderer kein Platz mehr blieb. [3]
Aus dieser Verkürzung entsteht bei Glotz eine teleologische Interpretation der böhmischen Geschichte, die die Vertreibung der Deutschen als logische Konsequenz, ja als unausweichlich erscheinen lässt. So lautet die Wertung zum böhmischen Pfingstaufstand von 1848: "Der Kampf war entbrannt, und er hörte erst 1945/46 auf, durch die Vertreibung der Deutschen." (47). Dieser scheinbare Automatismus, die ausschließliche Fixierung auf den Konflikt zwischen Tschechen und Deutschen, lassen Glotz die durchaus vorhandenen Elemente der Kooperation und der Partnerschaft übersehen, die die jüngere Forschung beispielsweise für die Wirtschaft der Ersten Tschechoslowakischen Republik herausgearbeitet hat. [4] Glotz selbst scheint zu sehr der Gedankenwelt des Nationalismus bzw. des "Volkstumskampfs" verhaftet, um andere Entwicklungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen.
Was bei der monokausalen Interpretation zusätzlich befremdet, ist die Erklärung, die Glotz für die Entstehung des Nationalismus liefert: In seinen Augen sind dafür hauptsächlich romantische Schwarmgeister wie Johann Gottfried Herder, gewissenlose Geschichtsfälscher wie Václav Hanka und auch im Grunde redliche Historiker wie František Palacký verantwortlich gewesen, deren Werke der Bevölkerung Böhmens den Kopf verdreht hätten. So lautet denn die Überschrift des zweiten Kapitels unmissverständlich: "Die Herstellung des Nationalismus in Böhmen" (33). Diese zur Erklärung eines überaus komplexen Phänomens doch recht simple These überschätzt die Wirkungsmacht und den Einfluss von Intellektuellen gewaltig. Immerhin waren in den böhmischen Ländern Benachteiligungen aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit über alle Epochengrenzen hinweg eine alltäglich erfahrbare Tatsache, für Bewerber um den Staatsdienst ebenso wie für einfache Arbeiter, die für die gleiche Tätigkeit unterschiedlich entlohnt wurden. Erst dadurch fielen die nationalistischen Parolen hüben wie drüben auf so überaus fruchtbaren Boden.
Der zweite Einwand richtet sich gegen das - zwangsläufige - Ungleichgewicht zwischen der Vertreibung selbst und ihrer Vorgeschichte. Nicht, dass Peter Glotz etwas verschweigen würde, immerhin umfassen die Kapitel zur Ersten Republik und zum Protektorat Böhmen und Mähren jeweils rund 50 Seiten, auf denen die Faschisierung der sudetendeutschen Gesellschaft ebenso thematisiert wird wie die Verbrechen während der nationalsozialistischen Okkupation. In diesen Abschnitten spricht jedoch der sachlich-nüchterne Wissenschaftler, während Glotz im Kapitel über die Vertreibung ausgiebig aus den Quellen zitiert und Zeitzeugen zu Wort kommen lässt, was eine wesentlich stärkere Emotionalisierung bedingt. Auf diese Weise entsteht beim Leser dann doch der - sicherlich ungewollte - Eindruck, das die Vertreibungsverbrechen alle vorherigen in den Schatten gestellt hätten. Vor diesem strukturellen Problem stehen freilich alle Unternehmen, die das Thema für ein breiteres Publikum in einen größeren Kontext einordnen wollen.
Drittens erscheinen im Licht der neueren Forschung einige Deutungen - etwa was die besonders strittige Sprachenfrage betrifft oder die extrem negative Einschätzung der amerikanischen Nachkriegskonzeptionen auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919/20, um nur zwei Beispiele zu nennen - korrekturbedürftig. Mehr als fragwürdig ist freilich die Interpretation des Schicksals der böhmischen Juden: "Zum Schluß fielen die Stärksten unter ihnen, Deutsche, Tschechen und Slowaken, übereinander her. Die Juden wurden dabei fast völlig ausgelöscht. Ein befremdlicher, melancholisch stimmender, auch zornig machender Prozess der Selbstverkleinerung." (19). Wie soll man diese Aussage verstehen?
Die flüssig geschriebene Darstellung hat freilich auch ihre starken Seiten. Das betrifft, neben einigen sehr gelungenen Kurzporträts etwa von Palacký, Masaryk oder Henlein, insbesondere die emphatische Schilderung der verzweifelten und letztlich vergeblichen Bemühungen der sudetendeutschen Sozialdemokratie in den Dreißigerjahren, zwischen Tschechen und Deutschen zu vermitteln, um die Demokratie zu retten. Sie zahlten dafür einen hohen Preis: Nach der Eingliederung der Tschechoslowakei in den deutschen Machtbereich beglichen die eigenen "Volksgenossen" politische und persönliche Rechnungen, und nicht wenige sudetendeutsche Sozialdemokraten wanderten in die Konzentrationslager; nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie, trotz erwiesener "antifaschistischer Gesinnung", abermals Opfer - diesmal der tschechoslowakischen Vertreibungspolitik, die nicht lange nach individueller Schuld fragte. Trotz dieses harten Schicksals zählten die ausgewiesenen Sozialdemokraten in der Bundesrepublik nicht zu den Hardlinern in den Vertriebenenverbänden, sondern machten sich in der neuen Heimat pragmatisch - und diesmal sehr erfolgreich - ans Werk, um Spannungen zwischen Alteingesessenen und Neubürgern abzubauen. Nach der Epochenwende von 1989 waren es nicht zuletzt sie, die auf lokaler Ebene für eine Verständigen zwischen Tschechen und Deutschen eingetreten sind und mittlerweile schon einiges erreicht haben. Das sollte, auch im Hinblick auf das geplante Zentrum gegen Vertreibung, zu denken geben.
Anmerkungen:
[1] Wegweisend war die Studie von Norman M. Naimark: Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004 (die amerikanische Ausgabe erschien bereits 2001 unter dem Titel "Fires of Hatred"). Verwiesen sei darüber hinaus auf Detlef Brandes u.a. (Hg.): Erzwungene Trennung. Vertreibung und Aussiedlung in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien, Essen 1999, und Alfred J. Rieber (Hg.): Forced Migration in Central and Eastern Europe, 1939-1950, London 2000, sowie Helga Schultz (Hg.): Bevölkerungstransfer und Systemwandel. Ostmitteleuropäische Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 1999, und Philipp Ther / Holm Sundhaussen (Hg.): Nationalitätenkonflikte im 20. Jahrhundert. Ursachen von inter-ethnischer Gewalt im Vergleich, Wiesbaden 2001, sowie Philipp Ther / Ana Siljak (Hg.): Redrawing Nations. Ethnic Cleansing in East-Central Europe, 1944-1948, Lanham u.a. 2001.
[2] Dass der Staat die Voraussetzung für jede Form der "ethnischen Säuberung" darstelle, betont insbesondere Norman M. Naimark (siehe Anmerkung 1).
[3] Vgl. den Überblick bei Peter Alter: Nationalismus, Frankfurt am Main 1985.
[4] Vgl. Christoph Boyer: Nationale Kontrahenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der ČSR (1918-1938), München 1999.
Jaromír Balcar