Ulrike Frede: Unvergessene Heimat Schlesien. Eine exemplarische Untersuchung des ostdeutschen Heimatbuches als Medium und Quelle spezifischer Erinnerungskultur (= Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V.; Bd. 88), Marburg: N.G.Elwert 2004, VIII + 394 S., ISBN 978-3-7708-1268-4, EUR 26,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
In ihrer am Seminar für Volkskunde der Universität Münster vorgelegten Dissertation beschäftigt sich Ulrike Frede mit einem Thema, das bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist und doch ein höchst interessantes Forschungsfeld darstellt: die Heimatbücher deutscher Vertriebener. [1]
Methodisch verfolgt die Arbeit viel versprechende Ansätze. Die zu Grunde gelegten 164 Werke werden sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgewertet, zudem hat die Autorin die spärlichen Informationen über Autoren und Mitarbeiter der Publikationen so weit wie möglich vervollständigt. Auf diese Weise gelingt eine aufschlussreiche Biografik, die beispielsweise die klare Generationszugehörigkeit der Autoren belegt: Die Hälfte gehört den Geburtsjahrgängen 1910 bis 1933 an, erlebte also die Vertreibung als Erwachsene, ein weiteres Drittel war bei Kriegsende sogar schon zwischen 35 und 65 Jahre alt, nur 2% der Autoren sind nach 1940 geboren (65). Drei Viertel waren bei Veröffentlichung der Werke älter als 60 Jahre. Hier wird sichtbar, dass der "Blick zurück", die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte überwiegend dem späteren Lebensalter eigen ist und dass bereits die zweite Generation kaum Interesse an einer Beschäftigung mit der Heimat ihrer Eltern und Großeltern zeigt. Ebenso deutlich wird der Wandel in den Einstellungen und Äußerungen. Die Ostverträge der Regierung Brandt hatten hier eine ungeahnte Wirkung: Indem sie die Möglichkeit zu Reisen in die alte Heimat eröffneten, beförderten sie den Abbau von Klischees und schufen die Grundlage zum deutsch-polnischen Dialog. Nach 1990 führten diese Wiederbegegnungsreisen auch zum Dialog der Generationen innerhalb der eigenen Familie.
Die Verfasserin erklärt explizit, sich jeglicher Bewertung der Publikationen enthalten zu wollen, der Leser solle "das Aussagepotential und die Hintergründe [der Werke] selbst [...] erahnen" (29). Das Ergebnis ist eine streckenweise ermüdende Wiedergabe von Inhalten, die Kennern der Vertriebenen-Publizistik hinlänglich bekannt sein dürften. Statt hieran zu zeigen, wie stark beispielsweise die Vertriebenen-Publikationen bis hin zu privaten Erinnerungen von den politischen Diskursen des Kalten Krieges beeinflusst waren, und damit ihre Historizität aufzuweisen, gerät die Quellennähe im Extremfall zur unkritischen Übernahme. Begriffe wie "Besetzung der Resttschechei" (255) oder die Rede von einer vermeintlich "niedrigen Kultur" slawischer Bewohner der von den Deutschen zu kolonisierenden Ostgebiete (357) sollten in wissenschaftlichen Publikationen nicht ohne kritische historische Einordnung und vor allem nicht ohne Zitatkennzeichnung gebraucht werden. Hier wären größeres historisches Hintergrundwissen und mehr Quellendistanz hilfreich gewesen.
Durch den Verzicht auf eine Hinterfragung der Inhalte gehen viele Chancen verloren, aus den Werken Rückschlüsse zur Sichtweise der Vertriebenen auf die Erfahrung der Vertreibung zu ziehen. Die Idyllisierung der verlorenen Heimat, die in den Werken propagierte Agrarromantik wird nicht als Symptom der Verlusterfahrung erfasst (349 f.). Ebenso wird zwar die heimatkundliche Literatur der Zwischenkriegszeit als Vorbild einbezogen, die enge Anbindung der Heimatbücher an die Tradition der Heimatkunde bleibt jedoch unerkannt. So wird die Metapher von Heimat als "Wurzelboden" des Daseins als Ausdruck individueller Heimatverbundenheit verstanden (228 f.), nicht aber als Zitat aus dem vor 1945 einflussreichsten Text zum Thema "Heimat" identifiziert - Eduard Sprangers "Bildungswert der Heimatkunde". [2] Stattdessen führt die Autorin die Virulenz des Heimatgedankens in der Zwischenkriegszeit allein auf die Auswirkungen des Versailler Vertrags zurück (33) und erklärt rhetorische Elemente, die schon den Diskursen der Zwischenkriegszeit entstammen, als Reaktion auf "polnische Propaganda" der Zeit nach 1945 (338).
Bleibt die Frage, was die eigentliche Zielsetzung der Studie ist. Nach Aussage der Verfasserin soll anhand der Werke ein "spezifisches Bewußtsein" der Vertriebenen (227) herausgearbeitet werden, der Titel spricht von "Erinnerungskultur". Was aber exakt unter diesen Begriffen verstanden wird, bleibt diffus. Die theoretische Literatur zu Erinnerung und Gedächtnis (Maurice Halbwachs, Jan und Aleida Assmann, Pierre Nora) wird gelegentlich angeführt, dient aber nicht eigentlich zur theoretischen Fundierung der Arbeit. Müsste im Zentrum einer solchen Studie eigentlich die Frage "Was ist ein Heimatbuch?" stehen, so ist das Fehlen eben dieser Fragestellung ihr grundsätzliches Manko. Frede verweist zwar auf die zum Thema bis heute maßgebliche Publikation [3], um dann jedoch deren präzise Definition der Schriftenklasse beiseite zu lassen und sich für einen "offenen Quellenrahmen" (3) zu entscheiden. Ihre eigene Definition des Heimatbuchs bleibt unscharf (60), Grundlage ihrer Studie sind sämtliche Werke, die ein bestimmtes Untersuchungsgebiet - die Grafschaft Glatz, die ehemaligen Kreise Frankenstein und Waldenburg - behandeln, und deren Autoren zu diesen historischen Räumen "eine enge Beziehung" haben. Unter dem Stichwort "Heimatbuch" werden so Loseblattsammlungen aus Familienbesitz, die in den Bestand eines Heimatarchivs gelangten, Bildbände, Dokumentensammlungen, Pfarrchroniken, persönliche Erinnerungsschriften, von Heimatortgemeinschaften gestaltete und so betitelte "Heimatbücher", aber auch ein wissenschaftlicher Ausstellungskatalog des Landesmuseums Schlesien [4] subsumiert. Ob man all diese Werke überhaupt als "heimatliches Schrifttum" verstehen kann, ist beispielsweise im letzten Fall fragwürdig; sie sämtlich als "Heimatbücher" zu definieren, erscheint höchst problematisch.
So steht am Ende der Studie die Erkenntnis, dass die zu Grunde gelegten Werke extrem heterogen, die Autoren, die Entstehungsbedingungen und die Inhalte nur schwer miteinander vergleichbar seien - die Werke seien eben so vielfältig wie die Vertriebenen selbst. Angesichts dieses Fazits wird schließlich Wolfgang Kesslers These der Heimatbücher als "kollektive Gedächtnisleistungen der Erlebnisgeneration" infrage gestellt (367). Den Zugang zu diesem kollektiven Gedächtnis, zur Erkenntnis dessen, was ein Heimatbuch ist und was es für die Erinnerungsarbeit der Vertrieben bedeutet, hat sich die Studie durch die unscharfe Definition ihres Betrachtungsgegenstandes leider selbst verbaut. Sie mag zwar interessante Einblicke in die Literatur über historische Landschaften Schlesiens bieten, aber nur wenig Erkenntnisse über Heimatbücher von Vertriebenen.
Anmerkungen:
[1] Siehe zum Thema auch Jutta Faehndrich: Erinnerungskultur und Umgang mit Vertreibung in Heimatbüchern deutschsprachiger Vertriebener, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 52 (2003), 191-229.
[2] Eduard Spranger: Der Bildungswert der Heimatkunde [zuerst 1923], in: ders.: Philosophische Pädagogik, hrsg. von Otto Friedrich Bollnow und Gottfried Bräuer, Heidelberg 1973, 294-319.
[3] Wolfgang Kessler: Ost- und südostdeutsche Heimatbücher und Ortsmonographien nach 1945. Eine Bibliographie zur historischen Landeskunde der Vertreibungsgebiete, München / New York 1979.
[4] 900 Jahre Kamenz - Kamieniec Ząbkowicki. Spuren deutscher und polnischer Geschichte. 900 lat Kamieńca Ząbkowickiego - Kamenz. ŚŚlady niemieckiej i polskiej historii, hrsg. vom Landesmuseum Schlesien e.V., Görlitz 1996.
Jutta Faehndrich