Peter Johanek / Franz-Joseph Post (Hgg.): Vielerlei Städte. Der Stadtbegriff, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, XI + 180 S., ISBN 978-3-412-10603-4, EUR 29,90
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Der Titel macht deutlich, um was es den Veranstaltern in der vom Institut für Vergleichende Städtegeschichte im Frühjahr 2000 in Münster abgehaltenen und jetzt in zehn Beiträgen dokumentierten Tagung geht: Es ist der multiperspektivische Blick auf ein Phänomen und seine begriffliche Bestimmung, und dies meint sowohl ein interdisziplinäres als auch ein epochen- und kulturgeschichtlich differentes Sehen auf die Stadt und ihre begriffliche Festschreibung.
Der Stadt respektive dem Stadtbegriff zeigen sich verschiedene Disziplinen verpflichtet (und nicht nur die hier vereinten, die historisch, archäologisch, geografisch und literaturgeschichtlich argumentieren), und im Anschluss an die Lektüre wird deutlich, dass sich nur eine gesammelte konzentrierte Sicht auf bestimmte Einzel- / Epiphänomene der Komplexität Stadt anzunähern vermag. Denn es gibt kein universales Verständnis von Stadt, keine metageordnete Definition, kein allgemeinverbindliches oder unabhängiges Stadt-Bild, jedoch verschiedene, zeit- und räumlich divergierende Ansichten über Stadt, Zeugnisse städtischer Ausprägungen und Formationen, die ihrerseits bereits auf Fragen der Abgrenzung und schließlich der Terminologie verweisen.
Die weite Definitionsschau, mit der Alfred Heit einleitet, zeigt ein stetes Anwachsen, aber auch ein Umwenden kategorialer Bestimmungen, bei denen sich bereits in Zedlers Universal-Lexicon (1732-1754) eine doppelte Konnotation zeigt: Stadt ist bürgerliche Rechtsgemeinschaft (civitas) und geografischer Raum mit den Indizien Größe und Geschlossenheit, was wiederum wirtschaftliche und kirchengeschichtliche Aspekte mitführt, wenngleich diese zunächst nur peripher eine kategoriale Zuschreibung erfahren. Der Reichtum an Konnotationen, besser: Merkmalen, der städtische Frühformen vor allem rechtsgeschichtlich zu spezifizieren sucht, führt im Laufe des 19. Jahrhunderts allerdings weniger zur Präzision, sondern lässt zum einen "ein bemerkenswertes Desinteresse an begrifflichen und definitorischen Fragen erkennen" (4), zum anderen lässt er den Einfluss tagesaktueller Fragen spüren, der nun auch wirtschaftliche wie soziale Aspekte mitführt. Von einer (ökonomischen) Qualität der Stadt ausgehend, die auch kultische und geistige Parameter ausblendet, gelingt erstmals Gustav von Schmoller (1908) ein "universelle[r] Zugriff" (6). Die Konzentration auf das sozio-ökonomische Potenzial einer Stadt wird bei seinen Nachfolgern deutlich und kulminiert in den diversen, einflussreichen Studien Max Webers. Deren Stärke liegt nicht zuletzt in den formalen Kategorien, sondern auch in der Inspiration für eine neue Wegweisung der Forschung, nämlich "'Stadt' durch eine Kombination verschiedener Merkmale zu definieren" (9). Stadt schließlich als "sozialgeschichtliches Gesamtphänomen" (11) fassen zu können, setzt einen diskursiven Stadtbegriff, eine strikte Ausdifferenzierung der Merkmalsbereiche sowie die Ergänzung um neue Zugänge voraus. Dynamik als definitorisches Prinzip auf der Suche nach einem einheitlichen Stadtbegriff? Heit schließt mit dem Vorschlag zur Arbeitsteilung: allgemein-formale versus typologisch-konkretisierende Begriffsbestimmung, wobei erstere auf die erforderliche Abstraktionsebene mit Konstanten verweist und "Steigerung" und "Pluralität" (12) als Schnittstellenkategorien zwischen bisherigen und folgenden terminologischen Bemühungen fungieren sollten.
Um städtische Frühformen erkennen zu können, bedarf es der Visualisierung und Konkretisierung erforschter Spuren. Sie zeigen unterschiedliche "Realitätsgrade" (31), die sukzessiv rekonstruiert und interdisziplinär miteinander vernetzt werden müssen. Die Arbeit der Historiker und der Archäologen ist gleichermaßen eine interpretierende und idealiter synthetisierende, wie Heiko Steuers Ausführungen zum archäologischen Stadtbegriff darlegen. Bei ihrer Erforschung von früh-, hoch- und spätmittelalterlichen urbanen Formen konzentriert sich die Mittelalterarchäologie heute auch auf kulturgeschichtliche Aspekte, auf "Lebensqualität", auf "soziale Strukturen und zivilisatorischen Fortschritt" (35), die gegenwärtige Städte als "Indizien" (37) konserviert halten. Die Erschließung und Bewertung dieser "rekonstruierte[n] ehemalige[n] Realität" (41) bedarf einer exakten epochalen und räumlichen Bestimmung, die zudem am Prozesshaften orientiert bleibt.
Die Vielfalt der Stadt spiegelt sich schon in der begrifflichen Zuschreibung. Lemmata wie civitas, urbs, oppidum verweisen auf eine Polysemie, hinter der sich - positiv gewendet - ein extensiver Umgang mit Bedeutungsmerkmalen verbirgt, der eben nicht auf Eindeutigkeit aus ist, was sich auch am Forschungspluralismus der Moderne ablesen lässt. Der unbestimmte (freiheitliche) Umgang zeigt sich bereits mit Blick auf die Verhältnisse in der griechischen Antike, den Peter Funke in seinen Ausführungen unternimmt: Polis kann grundsätzlich als Hyperonym gelten für verschiedene andere Bezeichnungen des griechischen Stadtwesens und ist deshalb die geeignete Übersetzung für den bis in die Neuzeit geltenden mittelalterlichen Stadt-Begriff. Der Bedeutungswandel im 19. Jahrhundert schafft so unscharfe Komposita wie Stadt-Staat, cité-Etat, city-state, stato-città und betont damit zwar die "inhärente Verbindung rechtlicher und siedlungsgeographischer Aspekte [....], verstellt aber [...] zugleich den Blick auf das Gesamtphänomen Stadt" (93). Hinweise auf die doppelte Semantik der Polis finden sich schon in der archaischen Zeit, und doch zeigt sich bis heute eine wissenschaftlich wie terminologisch "einseitige Sichtweise" (96), die politisch-juristische Aspekte gegenüber siedlungsgeografischen überbetont. Funke verdeutlicht anhand fotografischer und schriftlicher Quellen das "eigentümliche Spannungsgefüge" (97), das beide Parameter in der Grundgliederung des Polisterritoriums Attika aufweisen: Auch in den Siedlungsstrukturen von Demen und Phylen lässt sich ein eigener Lebensraum, eine "Städtewelt innerhalb der Polis" (99) konstatieren, was sich mittels restriktiver Terminologien und methodologischer Zugriffe weder erkennen noch adäquat beschreiben lässt. Nur ein "dynamisches Erklärungsmodell" (105), das bei der "Frage nach der Ausgestaltung städtischer Lebenswelten und nach deren identitätsbildenden Wirkungszusammenhängen" (105) siedlungsgeografische wie sozio-politische, rechtliche und ökonomische Aspekte gleichermaßen integriert, vermag sich der Vielfalt von Phänomen und Begriffen, seinem "Ensemblecharakter" (105), anzunähern.
Ungleich einfacher scheint die Bestimmung moderner Stadttypen, die sich als global oder world cities schon sprachlich von historischen Traditionen lösen und in ihrer Anzahl trotz divergierender Kriterienbetonung und begrifflichem Interpretationsreichtum "überschaubar bleiben" (166). So lassen sich z. B. New York, Tokyo und London, aber auch Brüssel, Mexico City oder Frankfurt dazurechnen. 'Globalisierung' als neues Stichwort markiert das Identifikationsmerkmal 'Vernetzung' und konnotiert 'Verdichtung', 'Logistik / Koordination', 'Zentrum / Peripherie' und 'Vielfalt' als Merkmalsträger gleich mit. In global cities verknüpfen sich transnationales Beziehungspotenzial und konzentrische Standortbehauptung, zentrale und (semi-)periphere Organisationsräume, spiegeln sich unterschiedliche politische, wirtschaftliche, kulturelle, architektonische, ethnische und soziale Aspekte auf engstem Raum. Der Bezug zwischen solchen modernen Herrschafts- und Kontrollzentren und den Welt-Städten der vorigen Jahrhunderte ist überraschender Weise nur ein kleiner, vor allem formaler, wie Franz-Joseph Post im abschließenden Artikel expliziert: Denn die Vernetzung von (geografischen, kulturellen, wirtschaftlichen) Räumen mitsamt der erforderlichen Logistik kann "aus stadthistorischer Perspektive [...] geradezu als ein Charakteristikum von Stadt gelten" (169). Auch lassen sich mit moderner Globalisierung vergleichbare Strategien schon im Expansionismus und Kolonialismus diagnostizieren und manifestiert sich die Bedeutung einer Stadt für Staat und Land bereits in ihrer Vergangenheit. Vor diesem Hintergrund ist Globalisierung nicht neu, "sondern [nur] das Bewußtsein, was wir von ihr haben" (170), insofern allenfalls eine Wortschöpfung, aber keine (traditionslose) Innovation.
Im Anschluss an die Gesamtlektüre scheinen solche Ergebnisse die zentrale Fragestellung nach dem "Vielerlei" von Stadt und Begriff im Detail zu dekonstruieren. Doch signalisiert dies nur das der Textsammlung zu Grunde liegende Verfahren: Das Prinzip der Heterogenität, dem der Band folgt, ist Grundlage für jede Form der vergleichenden Betrachtung. Aber es bedarf neben einer kontrastiven immer auch der basalen gemeinsamen Position und des internen Abgleichs, sollen die disziplinären Einzelergebnisse nicht ins Leere laufen. Die singulären Überlegungen, die politische mit siedlungsgeografischen, soziologische mit historischen Aspekten korrelieren, also die Spuren urbaner Materialität einer abstrakten rechts- und entwicklungsgeschichtlichen gegenüber stellen mit dem Ziel der inhaltlichen wie formalen Abgrenzung und Konkretisierung, liefern auf den ersten Blick höchstens kleine gemeinsame Nenner. Und dies ist auch folgerichtig, denn "Städte haben [...] Geschichte und sind das Ergebnis von Geschichte und deshalb ist es nicht möglich, die Fülle der Erscheinungen in einer Definition zu fassen" (13). Der Brückenschlag zum viel zitierten Ausspruch Ferdinand Braudels ("Stadt bleibt stets Stadt, wo immer sie in Zeit und Raum auch angesiedelt sein mag"), der einen differenzierten und zugleich universalistischen Zugriff impliziert, gelingt durch die Ordnung der Ergebnisse und ein intratextuelles Absuchen nach Verbindungslinien zwischen den Beiträgen mit dem Ziel der Kontextualisierung. Eine Komplettlösung, der "große integrierende Entwurf" (IX), fehlt zu Gunsten des hier geführten "transdisziplinären Gesprächs" (VIII), das auch explizit auf Desiderate aufmerksam macht, dabei insbesondere die Anbindung an affine Wissenschaften meint. - Ergänzend sei hier außerdem auf die Relevanz des "Geisteslebens" [1], auf geistes- und kulturgeschichtliche Implikationen verwiesen, die in den einzelnen Beiträgen allenfalls ornamentalen Status erlangen. - Bei allen Spezifika lassen sich jedoch auch die (notwendigen) übergeordneten Aspekte erkennen: So ist die Bestimmung eines Stadttypus leichter denn seine eindeutige Zuordnung, ist das Prinzip der Dynamik allgemein manifestes Signum im Erklärungsmodell, sind Unterscheidungen zwischen der Stadt als Lebens- und Sozialform, als rechtlicher, kirchlicher und / oder geografischer Raum grundsätzlich zeit- und ortsgebunden. Dies erschwert eine universale und chronologische Evaluation, doch liefern ihre Details immer weiter verwertbares, vor allem methodologisch inspirierendes Material. Eine gemeinsame Leitdifferenz der Autoren wird dabei deutlich: ein Nicht-Mehr und Noch-Nicht der grundsätzlichen wie der spezifischen Parameter sind Zuordnungshilfen und Ausgrenzungskriterien, die sich allgemeinverbindlich verankern lassen. Das "Bedürfnis nach Verallgemeinerungen, nach, wenn auch differenzierter, Typenbildung, schon allein zum Zwecke der Vergleichung" (14), kennzeichnet alle zehn Beiträge, die jeweils Entwicklung und Position ihrer Disziplin darlegen und eigene Ausführungen daran reflektieren. Das viel konstatierte "Gesamtphänomen Stadt" wiederholt den im Titel versteckten Appell zur Perspektivierung: Doch "Vielerlei Städte" synthetisiert nicht nur die Ausführung von Braudel, sondern apostrophiert zuerst die Feststellung Aristoteles' ("polis wird in vielerlei Bedeutungen verwandt", Politeia, 1276a23-24) und überträgt sie den heute fachlich ausdifferenzierten Zuständigkeiten, die sich diskursiv darüber verständigen müssen. Was Roland Barthes in seinen semiologischen Überlegungen für die Stadtplanung zu generieren sucht, dimensioniert die historische Re-Konstruktion der Stadt und den disziplinären Umgang mit ihr: "Die Stadt ist ein Diskurs, und dieser Diskurs ist wirklich eine Sprache: Die Stadt spricht zu ihren Bewohnern, wir sprechen unsere Stadt, die Stadt, in der wir uns befinden, indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen." [2] Erst ein Zugriff von verschiedenen Seiten und der darüber geführte Diskurs rezipieren die der Stadt und dem Stadt-Begriff innewohnende Pluralität, ihr "Vielerlei".
Anmerkungen:
[1] Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, Bd. 9, 1903, 185-206.
[2] Roland Barthes: Semiologie und Stadtplanung, in: ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt / Main 1988, 199-209.
Christiane Dahms