Rezension über:

Rüdiger Schnell (Hg.): Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 347 S., ISBN 978-3-412-13904-9, EUR 34,90
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Rezension von:
Juliane Jacobi
Institut für Pädagogik, Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Juliane Jacobi: Rezension von: Rüdiger Schnell (Hg.): Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/7532.html


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Rüdiger Schnell (Hg.): Zivilisationsprozesse

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Der hier zu besprechende Sammelband vereinigt neben den Arbeiten des Herausgebers Beiträge von Historikern und Literaturwissenschaftlern zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, die auf eine von dem Basler Literaturwissenschaftler initiierte interdisziplinäre Tagung zurückgehen, auf der die Zivilisationstheorie von Norbert Elias im Zentrum stand. Es ist das erklärte Interesse Rüdiger Schnells nachzuweisen, dass Elias' Theorie des Prozesses der Zivilisation, die dieser unter anderem durch Rückgriff auf Erasmus Schrift 'De Civilitate morem puerilium' entwickelte, auf dürftiger Quellenbasis und unhaltbarer Chronologie fußt. Mit "Kritische[n] Überlegungen zur Zivilisationstheorie von Norbert Elias" systematisiert Schnell seine These und bietet einen guten Überblick über die Diskussion einer der einflussreichsten kultursoziologischen Werke des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, an deren Schnittpunkt Elias' Werk anzusiedeln ist. Mit eindrucksvoller Quellenarbeit verfolgt Schnell in einem weiteren Beitrag seinen Gedankengang, nun unter literaturwissenschaftlicher Perspektive: Er beantwortet die Frage, ob mittelalterliche Tischzuchten als Zeugnisse für Elias' Zivilisationstheorie dienen können, erwartungsgemäß mit Nein, denn er kann aus literarischen Quellen nachweisen, dass Scham und Peinlichkeitsschwellen im Mittelalter auch abseits von der Entwicklung der Tischsitten bestanden. Schnell komplettiert seine Auseinandersetzung mit Elias' Theorie durch einen Beitrag über eheliche Machtbeziehungen in Mittelalter und Früher Neuzeit, der in keinem unmittelbaren Zusammenhang zum Thema "Erziehungsschriften in der Vormoderne" steht.

Aus der Sicht der Bildungsgeschichte ist diese Präokkupation des Herausgebers, die sich auch in dem Anteil seiner Beiträge am Gesamtumfang des Sammelbandes (mehr als 50 Prozent) ausdrückt, durchaus zweischneidig: Sie zeitigt zum einen interessante Ergebnisse zur Geschichte der Tischzuchten und zur Erhellung der seit Elias vor allem dann durch die überaus populären Arbeiten von Ariès propagierten These einer mangelnden Differenzierung zwischen Kindern und Erwachsenen in den einschlägigen mittelalterlichen Schriften. Sie vernachlässigt jedoch, dass der Soziologe Elias eine andere Fragestellung hatte, die sich für bildungsgeschichtliche Forschungen als äußerst produktiv erwiesen hat. Die Soziologie - und mit ihr auch die Bildungsgeschichte - fragt vor allem nach Strukturen und nicht nach dem individuellem Ereignis, das Gegenstand der schönen Literatur ist.

Ich werde mich im Folgenden auf fünf Beiträge konzentrieren, die aus bildungsgeschichtlicher Sicht von besonderem Interesse sind. Klaus Schreiner hat in eindrucksvoller Weise die für mittelalterliche Erziehungsvorstellungen immer wieder herangezogene Schrift 'De eruditione filiorum nobilium' des Vinzenz von Beauvais (entstanden zwischen 1247 und 1249) neu interpretiert. Schreiner gelingt es in brillanter Form, die Quelle sozialgeschichtlich und diskursgeschichtlich zu kontextualisieren und damit unsere bisherigen Kenntnisse dieser Schrift und ihrer potenziellen Wirkung enorm zu erweitern. Der Autor kann ohne zwanghaften Drang nach Originalität die Bedeutung der Beauvais'schen Schrift im Prozess der zunehmenden "Adelsfrequenz an Europas hohen Schulen" aufzeigen, ohne kurzschlüssige Kausalitäten zu konstruieren. Geradezu vorbildlich beleuchtet er die Erziehungsvorschläge in ihrer jeweiligen Geschlechterdimension, eine methodische Umsicht, die sich selten findet. Man möchte diesem Aufsatz wünschen, dass er zu einem der Standardtext über mittelalterliche Adelsbildung wird.

Ausgehend von Norbert Elias' These, dass die Beziehung der Geschlechter ein wichtiger Indikator für den langfristigen Prozess der Zivilisation ist, untersucht Heide Wunder frühneuzeitliche Erziehung als Teil der langfristigen Modellierung von Triebstrukturen, von Fremdzwängen, die zu Selbstzwängen transformiert werden. Ob es in der Frühen Neuzeit so etwas wie eine geschlechtsspezifische Erziehung in Norm und Praxis gab, wird also ebenso gefragt, wie nach den Veränderungen von Geschlechterbildern, nach Erziehungspraktiken und schließlich nach Figurationen von Erzieherinnen und Erziehern und Zöglingen. Wunder kommt zu einem differenzierten Ergebnis: Eine strukturelle Geschlechtsspezifik, in der es um die Erziehung zu Männlichkeit und Weiblichkeit ging, gab es in der Frühen Neuzeit nach Wunder nicht. Erziehung zielte primär auf die standesgemäße Existenzsicherung ab, diese war allerdings doch überwiegend geschlechtstypisch ausgeprägt, da die Erziehung der Frauen mit der Zielsetzung ihres Berufes in der Ehe verbunden war. Dieser Befund gilt jedoch innerhalb der katholischen Welt nicht, da dort Ehelosigkeit für Männer und Frauen eine durchaus erstrebenswerte Lebensperspektive sein konnte. Populäre historische Vorstellungen über weibliche Bestimmung als kulturell überformend werden durch Wunders Bündelung und Interpretation einer Vielzahl von Ergebnissen aus jüngeren Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte revidiert.

Der Beitrag von Helmuth Puff, Lernpraxis und Zivilisationsprozess in der Frühen Neuzeit, bietet eine grundlegende geschlechtergeschichtliche Perspektive auf die Geschichte der Schule. Puff interpretiert die Schule überzeugend als eine relevante Institution im Zivilisationsprozess genau für den Zeitraum, den auch Norbert Elias im Auge hatte. Dieser Fokus auf die Schule als zivilisationsgeschichtlich relevante Institution ist zwar nicht gänzlich neu, denn bereits Philipp Ariès [1] hat die Entwicklung des Collège aus der mittelalterlichen Universität als kulturgeschichtlich relevanten Transformationsprozess des Generationenverhältnisses in den Blick genommen. Neu ist allerdings Puffs konsequente Interpretation der Schulgeschichte des 15., 16. und 17. Jahrhunderts als Geschichte einer Institution, in der zur Männlichkeit erzogen wurde. Die gelehrte ratio, Ergebnis der Erziehung in den literae et mores, das Bild des vir gravis honestus ist ein Männlichkeitsentwurf, ein Entwurf, und auch dies kann Puff zeigen, der mit anderen zeitgenössischen Männlichkeitsentwürfen in Konkurrenz stand. Mit der Frage, die Puff zum Schluss seiner sehr dichten Analyse der Quellen aufwirft, ob nicht die Schule nun gerade der Ort zivilisatorischer Arbeit war, an dem diese verschieden Männlichkeitsentwürfe angepasst wurden, öffnet er ein weites Feld für anschließende Forschungen zur Bildungsgeschichte in ihrer kulturgeschichtlichen Dimension.

Wilhelm Kühlmanns Beitrag zu 'De Civilitate morem puerilium' des Erasmus, der sich mit den anthropologischen Vorraussetzungen der im 16. und 17. Jahrhundert enorm verbreiteten Schrift beschäftigt, weist zwar auf einen Aufsatz von Oliver Knowles hin, der die Wirkung des Werkes im schulischen Kontext untersucht, hat aber den Beitrag zu deren Wirkungsgeschichte durch ihre schulische Verwendung von Jacques Revel [2] leider nicht zur Kenntnis genommen. Insofern sind seine Erkenntnisse weder überraschend noch weiterführend.

Trotz einer gewissen Ungleichgewichtigkeit und einer nicht gänzlich überzeugenden Auswahl der Beiträge im Einzelnen und des nicht wirklich treffenden Untertitels "Erziehungsschriften in der Vormoderne" ist es Rüdiger Schnell gelungen, die Anregungen des Elias'schen Werkes für die Bildungsgeschichte von Mittelalter und Früher Neuzeit erneut vor Augen zu führen. Insofern beweist sich, im bescheideneren Sinn als von Robert K. Merton [3] avisiert, wieder einmal die Hellsichtigkeit in Newtons Ausspruch: "If I have seen farther, it is by standing on the shoulders of giants." Betrachtet man die bildungsgeschichtliche Forschung der letzten dreißig Jahre, so machen einen Sammelbände wie dieser froh, weil er beweist, dass man von den Schultern aus mehr sieht, als wenn man auf dem Rasen bleibt.


Anmerkungen:

[1] Philipp Ariès: Geschichte der Kindheit, München 1975.

[2] Jacques Revel: Vom Nutzen der Höflichkeit, in: Philipp Ariès / Roger Chartier (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1995, 173-211.

[3] Robert K. Merton: Auf den Schultern von Riesen: ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, Frankfurt am Main 1983.

Juliane Jacobi