Élisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert (= Stendaler Winckelmann-Forschungen; Bd. 2), Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2004, VIII + 208 S., 8 Abb., ISBN 978-3-910060-57-9, EUR 24,00
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"Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften". Das klingt nicht so, als hätte man hier ein spannendes Opus in die Hände bekommen. Aber der Schein trügt: Décultots Buch ist eines der Wichtigsten zur Winckelmann-Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte, es ist lebendig geschrieben und hervorragend aus dem Französischen übersetzt. Noch angenehmer ließe es sich lesen, wenn die Stendaler Winckelmann-Gesellschaft, die schon öfter Übersetzungen zum Bereich des deutschen Klassizismus unterstützt hat, das gewählte Breitformat auch zur Zweispaltigkeit genutzt hätte. So what.
Der deutsche Titel des Buches wirkt zwar pedantisch, aber er trifft den Gegenstand der Untersuchung genauer als das Original, das im Jahr 2000 unter dem Titel: Johann Joachim Winckelmann: enquête sur la genèse de l'histoire de l'art bei den Pariser Presses universitaires de France erschienen ist. Der Originaltitel ist auch insofern ein wenig irreführend, als er eigentlich einem Grundanliegen der Autorin widerspricht. Sie will nämlich belegen, dass Winckelmann entgegen seiner eigenen Originalitätsrhetorik keineswegs unbeeinflusst von den Vorgängern war. Beleg dafür sind ihr die umfangreichen Exzerpthefte aus praktisch allen Bereichen der europäischen Geistesgeschichte (ca. 7500 Seiten!), die sich seit 1798 in Pariser Besitz befinden und heute in der Bibliothèque Nationale aufbewahrt werden. Gegen die comunis opinio also, die in allzu großer Hörigkeit gegenüber der Winckelmann'schen Selbststilisierung in dem Stendaler Archäologen den Quellpunkt der modernen Kunstgeschichte erblicken will, verortet sie ihn in der longue durée. Ein wenig aber auch gegen ihren eigenen Anspruch zeigt die Autorin, dass bei aller Anlehnung an seine Vorgänger mit Winckelmann etwas grundsätzlich Neues ans Licht kam, womit der comunis opinio nun wiederum wenigstens teilweise Recht gegeben wird.
Im mittleren 18. Jahrhundert nimmt Winckelmann an einer säkularen Transformation teil, die das Ideal der Originalität gegenüber dem der Imitatio mehr und mehr in den Vordergrund rückt. Ja, mit seiner immer wieder geäußerten Abneigung gegenüber den archäologischen Antiquaren und dem Buchstudium überhaupt ist er ein Protagonist dieser Transformation. Dass ausgerechnet er vor allem in seiner deutschen Frühzeit ein derartig ausufernder Exzerpist gewesen ist, passt daher weder allgemein in das Bild, das die Moderne vom Genie hat, noch speziell in unser Winckelmann-Bild. Décultot aber kann bis ins Kleinste seine umfangreichen Lektüren und deren schriftlich niedergelegten Ausschnitte rekonstruieren: antike Texte, frühmoderne, englische, französische, italienische, lateinische und griechische, naturgeschichtliche und kulturgeschichtliche, Winckelmann muss ein echter Logophag gewesen sein. Zwar ist sein Wechsel von Deutschland nach Italien auch einer vom Lesen zum Schauen, aber der Verfasserin gelingt ebenso der Nachweis, dass ihr Matador auch in Italien durchaus noch weiter Bücher exzerpiert hat. Ergebnis dieser umfangreichen Studien ist nicht nur, dass einige der zentralen Konzepte Winckelmanns fast wörtlich von anderen übernommen wurden (das wusste man auch schon vorher), sondern dass seine ganze Konzeption ein Gemisch aus unterschiedlichen Eindrücken ist. Aber - und das scheint mir das Entscheidende - bei der Übernahme fanden häufig subtile, dafür umso entscheidendere Umformungen statt, die es verbieten, Décultots Buch als Beleg für die These zu nehmen, Winckelmann sei nur ein wenig herausragender Vertreter aus einer Reihe von Autoren, die in kontinuierlichem Fluss mindestens seit dem Barock das vormoderne Wissen um die Kunst kumuliert hätten. Im Gegenteil: Gerade die nunmehr fundiertere Kenntnis von Winckelmanns Quellen erlaubt umso eindrücklicher, den epistemologischen Bruch zu belegen, der in der Sattelzeit um 1750 eintritt, und der dann auf qualifiziertere Weise doch die im französischen Originaltitel suggerierte These belegt: "la genèse de l'histoire de l'art".
Zu allererst gilt das für die berühmte Formulierung: "Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten." In einer glänzenden Analyse (67 f.) gelingt es Décultot, die aporetische Dimension dieses Mottos bei Winckelmann herauszuarbeiten, die es bei La Bruyère, auf dessen Formulierung sich Winckelmann ganz offensichtlich bezieht, eben gerade noch nicht gehabt hat. Dass hieraus letztlich eigentlich die Unmöglichkeit der Nachahmung bei Winckelmann resultiert, zeigt die Verfasserin ebenso auf. Schöpferische Nachahmung hat sich in dieser Perspektive von der Kunst - wo sie eigentlich sinnvoll gar nicht möglich ist, darüber macht sich der romantische Klassizist Winckelmann keine Illusionen - in deren Beschreibung und Analyse verschoben, eine Adelung kunsthistorischer und allgemein kunstdeutender Rede, die bis dahin ohne Vorbild war (71 f.): "Kann man Griechenland nicht neu erschaffen, so kann man es doch von neuem wahrnehmen." (73). Der Triumph von Ästhetik und Kunstkritik im Zeitalter der deutschen Klassik bekommt von hier aus gesehen fast eine Notwendigkeit. Die emphatisch-einfühlsame Sprache Winckelmanns im Angesicht der vergötterten griechischen Kunst bleibt denn auch die eigentliche Innovation des Autors gegenüber all denen, die er selber kritisiert, auch wenn er von eben diesen mehr gelernt hat, als er zugibt (141 f.).
Die zweite Innovation aber bleibt zweifelsohne der Versuch, im Rahmen einer komplexen Kulturgeschichte dem Kunstwerk einen historischen Stellenwert zuzuweisen, in dem der organische zeitliche Verbund gegen die Parataxe chronikalisch geordneter Einzelphänomene gestellt wird. Ergebnis davon ist eine Zweigleisigkeit von - modern ausgedrückt - Genese und Geltung, die sich im zwischen Analyse und Enthusiasmus hin und her schwenkenden Duktus der Darstellung in der Geschichte der Kunst des Altertums ausdrückt, und die eigentlich bis heute virulent geblieben ist.
In die erstaunlich souveräne und wissensgesättigte Darstellung der Verfasserin mischen sich immer wieder eindrückliche Deutungsergebnisse. Eben die emphatische Sprache verbietet es Winckelmann fast zwangsläufig, seine Texte zu illustrieren, womit er sich radikal von den Caylus und Montfaucons unterscheidet. Die historistische Grundüberzeugung wird bei Winckelmann gerade aus seiner radikalen Zustimmung zur Position der Alten in der querelle des anciens et des modernes gespeist, eine Einsicht, die sich zwar nicht vollständig mit der berühmten Interpretation von Hans Robert Jauss in seinem Vorwort zu Charles Perraults Buch deckt, aber doch eine mit diesem vergleichbare Paradoxie benennt. [1] Denn auch hier resultiert Modernität aus entschiedenem Konservatismus (55 ff.). Überzeugend auch Décultots Interpretation der extensiven Beschäftigung mit naturgeschichtlichen Phänomenen wie der Pathologie des menschlichen Körpers, die sie als andere Seite der sprachlichen Stilisierung des kraftvollen und glatten Körpers der griechischen Helden im Bildwerk begreift (134).
Alles in allem: eine konzise Darstellung mit hohem intellektuellen Anspruch, die zu lesen durchwegs eine Lust ist.
Anmerkung:
[1] Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauss und kunstgeschichtlichen Exkursen von M. Imdahl. - Faksimiledruck der vierbändigen Originalausgabe, München 1964.
Hubertus Kohle