Dirk Blasius: Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930-1933, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 188 S., ISBN 978-3-525-36279-2, EUR 24,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Bernhard Sauer: Schwarze Reichswehr und Fememorde. Eine Milieustudie zum Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik, Berlin: Metropol 2004
Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg: Hamburger Edition 2006
Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München: C.H.Beck 2005
Endlich genug über die letzten Jahre der Weimarer Republik ? Diese Andreas Hillgruber entlehnte [1] Frage müsste man vermutlich bejahen - wenn, ja wenn nicht hin und wieder Studien wie die von Dirk Blasius erschienen, die diesem zentralen Thema der deutschen Geschichte doch noch interessante neue Aspekte abgewinnen können. Seit dem Ende des "Dritten Reichs" haben zahllose Historiker, unter ihnen die besten Kräfte ihres Fachs, ihre Anstrengungen auf den "Schwellenzeitraum" von 1930 bis 1933 gerichtet, um den verhängnisvollen Weg vom demokratischen Rechtsstaat zum totalitären Unrechtsstaat zu erklären. Inzwischen sind die meisten staatlichen, privaten und publizistischen Dokumente mehrfach gedreht, gewendet und gedeutet. Spektakuläre Quellenfunde wird es kaum mehr geben. Auch einer historisch-politischen Neuinterpretation der Vorgänge scheinen inzwischen enge Grenzen gesetzt, solange man nicht der Atmosphäre im Reichstagsrestaurant oder anderen kulturhistorischen Phänomenen eine erhöhte politische Relevanz zuschreiben will. Dass aber das gut und längst Bekannte - unter behutsamer Nutzung der methodischen Fortschritte in der Erforschung von Erfahrungen und Perzeptionen - durchaus neu gewichtet werden kann, zeigt das hier angezeigte Buch.
Es ist zum Allgemeinplatz geworden, dass für das Scheitern Weimars mehrere Gründe ursächlich waren. Dieser richtige Befund birgt die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit in sich. Der Politikhistoriker betont die Verantwortung der Politiker und Parteien, der Wirtschaftshistoriker die ökonomische Krise, der Sozialhistoriker die gesellschaftlichen Verwerfungen, der Verfassungshistoriker die Schwächen der Weimarer Verfassung und so weiter. Alles zusammengenommen ergibt ein geschlossenes, "multikausales" Bild, aber längst keine Antwort auf die Frage, welche dieser Komponenten in der Perspektive der Zeit die größte Relevanz besaß und damit zur wesentlichen Triebfeder der politischen Entwicklung wurde. Dirk Blasius akzentuiert einen Aspekt, der in der bisherigen Forschung (mit Ausnahme der Studien von Andreas Wirsching und Dirk Schumann [2]) vernachlässigt wurde, obwohl er die Menschen in den Krisenjahren der Weimarer Republik neben den wirtschaftlichen Nöten am meisten beschäftigte: die Situation eines latenten Bürgerkriegs und die daraus resultierenden Ängste und Entschlüsse. Dabei konzentriert er sich fast ausschließlich - der Untertitel ist ein ärgerlicher Etikettenschwindel, da die Jahre 1930/31 ungebührlich knapp auf zehn Seiten abgehandelt werden - auf das Jahr zwischen den Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr 1932 und der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933. Um die Gewichtung des Schlagworts "Bürgerkrieg" in der Politik und politischen Öffentlichkeit auszuloten, stützt sich Blasius vorwiegend auf gedrucktes Aktenmaterial und die Tagespresse, wobei den weitsichtigen Kommentatoren der "Vossischen Zeitung", Julius Elbau und Peter Reinhold, ein besonderer Platz eingeräumt wird. Der Autor macht den "Bürgerkrieg" als bestimmenden Faktor des politischen Bewusstseins und Handelns 1932/33 erstmals zur "Leitlinie einer systematischen Interpretation".
Was sind die Grundzüge dieser Interpretation? Die Weimarer Republik war als Nachkriegsgesellschaft - so die überzeugende Deutung von Blasius in Anknüpfung an ältere Forschungen - von Anfang an mit Bürgerkrieg und Gewalt belastet. Dem "offenen Bürgerkrieg", der 1918-1920 mit Mühe überwunden wurde, folgte zunächst ein "aufgeschobener Bürgerkrieg", dann in der Endphase der Republik und besonders im Jahr 1932 ein "latenter Bürgerkrieg", ehe schließlich die Nationalsozialisten ihr Terrorregime im Innern als "Bürgerkrieg in Permanenz" errichteten. Nach 1920 wurden vor allem die bürgerlichen Mittelschichten von einer steten Angst vor dem Bürgerkrieg begleitet. Diese Bürgerkriegspsychose konnte jederzeit und umso leichter, je mehr die politische Gewalt auf der Straße eskalierte, von den politischen Kräften und ihrer Presse geschürt und für blanke Machtinteressen genutzt werden. Die Folge war, dass sich Bürgerkriegsängste, eine "Bürgerkriegspolitik", die hermetischen Feindbildern folgte und auf Gewalt setzte, sowie ein "Bürgerkrieg des gedruckten Worts" gegenseitig hochschaukelten. All das kulminierte im Krisenjahr 1932.
Wie wirkte sich diese Entwicklung in der konkreten Politik aus? Nach dem Scheitern des Kabinetts Brüning-Groener und des verspäteten Versuchs, die Bürgerkriegspartei NSDAP durch das SA-Verbot in die Schranken zu weisen, betrieb das Kabinett der "nationalen Konzentration" unter Franz von Papen eine Politik der Spaltung nach einem starren Freund-Feind-Schema. Die Anbiederung an die NSDAP zog die fatale Aufhebung des SA-Verbots nach sich, während der "Preußenschlag" die Gewalt gegen die verfassungskonformen Kräfte zum Mittel der Politik machte. Die Regierung verschärfte dadurch die Bürgerkriegslage und verschaffte sich zugleich ein Argument, ihre Politik als Notmaßnahmen gegen den Bürgerkrieg zu rechtfertigen. Der "Wahlkrieg" vor den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932, mit 86 Toten allein in Preußen der blutigste der deutschen Geschichte, führte die Gefahr eines "offenen Bürgerkriegs" drastisch vor Augen. Besonders die Schlüsselfigur des Präsidialsystems, Paul von Hindenburg, war tief von den Erfahrungen der Umbruchszeit 1918-1920 geprägt und nicht bereit, durch die Berufung Hitlers oder die Deckung eines Staatsstreichs den Ausbruch eines wirklichen Bürgerkriegs zu riskieren. Die Bürgerkriegslage im Sommer 1932 und das Bürgerkriegssyndrom der politisch Verantwortlichen - so beschreibt Blasius treffend die "historische Paradoxie des Bürgerkriegsjahres 1932" - bewahrten den Weimarer Verfassungsstaat zunächst noch vor dem Untergang. Daher konnten weder Papen Erfolg haben, noch Hitler schon jetzt zum Zuge kommen.
Der originellste Teil der Studie ist die Neuinterpretation der Kanzlerschaft Kurt von Schleichers. Der Autor bezweifelt die - in der Forschung vor allem durch Eberhard Kolb und Wolfram Pyta vertretene [3] - These, dass die Ausrufung des Staatsnotstands und eine vorübergehende Militärdiktatur unter Schleicher der Königsweg gewesen wären, Hitler im letzten Moment zu stoppen. Blasius kommt stattdessen zu einer überraschend positiven Bewertung der Bemühungen Schleichers im Dezember 1932, als "Anti-Bürgerkriegskanzler" die Bürgerkriegssituation durch "eine Art Burgfrieden" zu überwinden. Sein "Querfront"-Konzept erscheint in dieser, aus der zeitgenössischen Bürgerkriegsperspektive gewonnenen Sicht als stringenter Politikansatz, der in bewusster Abkehr vom Konfrontationskurs Papens Brücken zum Parlament und zwischen den Bürgerkriegsparteien schlagen wollte, um jene Ängste zu bannen, die den Nationalsozialisten große Teile des Bürgertums zutrieben. Schleicher habe dann aber im Januar 1933 seine Chancen verspielt, indem er in der Krise seines Kabinetts den Verfassungsboden verlassen wollte und Mittel ins Auge fasste, die erneut den Bürgerkrieg heraufbeschworen hätten. Blasius sieht in der Ausrufung des Staatsnotstands keineswegs die einzige und schon gar nicht die beste Alternative. Er stützt sich auf die von Julius Elbau aufgezeigte Chance, "nach den Erlebnissen der letzten acht Monate die Mehrheit des Volkes von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich wieder gesund zu wählen und durch einen Reichstag der Arbeit der Sehnsucht nach innerem Frieden endlich wieder auf Jahre hinaus wirksamen Ausdruck zu verleihen", und konstatiert (160): "Schleicher fehlte der Mut zu einer Regierungspolitik, die abseits der skizzierten Wege einen eigenen Weg suchte und rechtzeitig auf eine Änderung der Kräfteverhältnisse im Reichstag unter Einschluss von Neuwahlen setzte."
An dieser gewagten kontrafaktischen These muss und wird die Diskussion ansetzen, doch ist wohl kaum zu bestreiten, dass Schleichers Staatsnotstandsplan erstens hochriskant war, da er den Bürgerkrieg eher zu provozieren drohte anstatt ihn zu verhindern, und zweitens das Ende seiner Kanzlerschaft beschleunigte, da sich Hindenburg gerade wegen dieses Risikos gegen ihn wandte. Damit war die Bahn frei für den Politiker und die Partei, die sich einem desorientierten Bürgertum nun umso wirkungsvoller als Bollwerk gegen die "rote Revolution" und den Bürgerkrieg präsentieren konnten. Die "Sehnsucht nach innerem Frieden" richtete sich jetzt auf den großen Zerstörer Adolf Hitler.
Es ist Dirk Blasius in seiner kleinen, konzentrierten und hochintelligenten Studie gelungen, deutlicher als bisher herauszuarbeiten, dass der bestehende latente wie der drohende offene Bürgerkrieg ein zentraler, vielleicht sogar der zentrale Bezugspunkt für die Politik und politische Öffentlichkeit im letzten Jahr vor Hitlers Machtübernahme war. Dass einige seiner Interpretationen diskutabel sind, schmälert diese Leistung nicht, sondern zeigt nur, was eine moderne Politikgeschichte selbst in den sprichwörtlichen "ausgetrampelten Pfaden" noch zu bewegen und anzuregen vermag.
Anmerkungen:
[1] Andreas Hillgruber: Endlich genug über Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg ? Forschungsstand und Literatur, Düsseldorf 1982.
[2] Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg ? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999; Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918-1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001.
[3] Vgl. etwa Eberhard Kolb / Wolfram Pyta: Die Staatsnotstandsplanung unter den Regierungen Papen und Schleicher, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.): Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, 155-181.
Johannes Hürter