Fatma Yalçin: Anwesende Abwesenheit. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte von Bildern mit menschenleeren Räumen, Rückenfiguren und Lauschern im holländischen 17. Jahrhundert (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 116), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2004, 288 S., 12 Farb-, 169 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06487-4, EUR 48,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
David Ganz: Barocke Bilderbauten. Erzählung, Illusion und Institution in römischen Kirchen 1580-1700, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2003
Eva Mongi-Vollmer: Das Atelier des Malers. Die Diskurse eines Raumes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin: Lukas Verlag 2004
Horst Bredekamp / Christiane Kruse / Pablo Schneider (Hgg.): Imagination und Repräsentation. Zwei Bildsphären der Frühen Neuzeit, München: Wilhelm Fink 2010
Das Thema ist verlockend: Gerade die offensichtliche Abwesenheit, Unzugänglichkeit oder Verschleierung des Hauptgeschehens kann Bilder anziehend machen. Fatma Yalçin hat sich der Untersuchung von Bildern mit menschenleeren Räumen, Rückenfiguren und Lauschern im Holland des 17. Jahrhunderts zugewandt und versucht, in diesem äußerst fruchtbaren Bereich eine Entwicklungsgeschichte 'gemalter Abwesenheit' aufzuzeigen. In den entsprechenden Interieurs haben die (bürgerlichen) Protagonisten die Bühne bereits verlassen, oder aber sie wenden sich vom Betrachter ab, erscheinen versunken und selbstvergessen, so als wären sie allein oder fühlten sich unbeobachtet. Nicht selten drängt dagegen eine andere Schicht - die der lauschenden Dienstboten - nach vorne. Der Typus ist wohl bekannt: Lauscher nehmen mit dem Rezipienten Blickkontakt auf, sprechen ihn mit Gesten direkt an, fungieren auf diese Weise als Mittlerfiguren oder konspirieren mit dem Betrachter, der etwas sieht, was er angeblich nicht sehen soll. Wie das heimliche Arrangement nahe legt, befindet er sich in einem Dilemma; seine Situation ist diegetisch paradox: Er beobachtet eine Handlung, ist von ihr jedoch ausgeschlossen - die Hauptakteure sind sich seiner Anwesenheit meist gar nicht bewusst. Andererseits wird der Betrachter mit Lauschern konfrontiert, die ihn konkret in das Geschehen einbeziehen - unter der Bedingung zu schweigen und seine Teilnahme auf keinen Fall zu verraten.
Das Paradox 'abwesend-anwesend' hat für Bilder natürlich paradigmatischen Wert. Der fiktive Charakter des realistisch Dargestellten wird in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts in immer neuen Varianten in Szene gesetzt; so gesehen zeigen die menschenleeren Interieurbilder, die Rückenfiguren und Lauscher eine starke Affinität zur Stillleben- und Porträtmalerei der Zeit. Demnach scheint es sich nicht nur um eine gattungs-, sondern auch um eine medienspezifische Fragestellung zu handeln, der Fatma Yalçin nachgehen wollte, doch an dieser Stelle wird der Leser enttäuscht. Die Untersuchung hält nach einer additiven Zusammenstellung einzelner Forschungsergebnisse inne, ohne sie in einem weiteren Bogen auf kunsttheoretische Konzepte und Fragestellungen zu beziehen. Das ist jedoch nötig, um die Tragweite der bildnerischen Disposition zu erwägen und historisch einzuordnen. Die Selbstversunkenheit holländischer Interieurbewohner forciert den autonomen Charakter der Bilder und damit eine mediale Reflexion, die später bei Diderot eine ihrer bekanntesten Ausformulierungen finden wird. Diskurse um die semiologische Eigenständigkeit von Malerei - im Gegensatz zum Text - werden gerade durch Verweise auf das Schweigen, auf die lautlose Welt der Bilder entfacht.
Dabei wurde das Thema sorgfältig und sensibel behandelt. Die Aufteilung der Kapitel erscheint jedoch nicht immer einsichtig, hier zeigt sich der additive Charakter der Arbeit am deutlichsten: Kapitel I fasst in einem "Rückblick: das Private in der Interieurmalerei" zusammen, ein ebenso schwieriges wie heikles Unterfangen, will man nicht in sozialhistorische Gemeinplätze verfallen. Die Autorin hat sich hier vor allem auf Ariès' und Dubys "Geschichte des privaten Lebens" verlassen, was der Einleitung nicht wirklich gut getan hat. Aufschlussreicher wird es im Anschluss, wenn Yalçin frühe Beispiele von Rückenfiguren und Lauschern in Buchilluminationen und Gemälden sucht und findet. Die Beispiele beschränken sich allerdings nicht auf den niederländischen Bereich, sondern sind aus verschiedenen Geografien und Epochen gegriffen, ohne dass klar wird, mit welcher methodischen Herangehensweise dies gerechtfertigt ist. Neben dem Kapitel zur Motivgeschichte (II) finden sich zwei narratologische Kapitel (III-IV): Das Erste widmet sich der Veranschaulichung von 'Zeit' im Bild, das andere dem Einfluss des zeitgenössischen Theaters auf die Malerei. Im Abschlusskapitel (V) wird der Einfluss von Kunst und Kommerz, also der soziologisch-historische Hintergrund der Motive thematisiert. Gerade dieser Schluss erscheint jedoch ohne wirklichen Zusammenhang und ohne neue Erkenntnis; es bleibt unklar, wie sich diese Informationen auf die Fragestellung der Arbeit beziehen lassen. Ähnlich geht es dem Leser mit dem exponiert erläuterten Problem der Zeitdarstellung in der holländischen Interieurdarstellung des 17. Jahrhunderts (III) - hier rekurriert die Autorin auf die allgemein bekannte Literatur, ohne aktuelle Untersuchungen (z. B. Irene Netta) heranzuziehen.
Und dennoch: Man kann deutlich erkennen, wie stark sich die Arbeit verändert, wenn sie sich auf Primärquellen stützt: Einen Höhepunkt bietet deshalb das sorgfältig zusammengetragene und mit Quellen belegte Kapitel zu Hoogstratens "Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst" (4.2). Hier liegt die unbestreitbare Stärke des Buches. Der alte Streit zwischen stummer Malkunst ('stomme penseel') und eloquenter Dichtung ('de spreekende penne') lebt an dieser Stelle noch einmal anschaulich auf, und man ahnt, welche medialen Debatten des 17. Jahrhunderts damit verbunden waren. Sie zu rekonstruieren wäre ein wichtiger Beitrag zu einer reflexiven Kunstgeschichte des holländischen 17. Jahrhunderts gewesen, gerade im Titel klingt ein solches Anliegen an. Und so wäre es wünschenswert, in der künftigen Forschung auch eine medientheoretische Diskussion aufzugreifen und für die holländische Malerei fruchtbar zu machen.
Karin Leonhard