John Hostettler: Law and Terror in Stalin's Russia, Little London: Barry Rose Law Publishers 2003, XXIII + 226 S., ISBN 978-1-902681-36-8, GBP 22,00
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Wie der Gulag oder das NKVD, so sind die Schauprozesse der 1930er-Jahre zu einer wesentlichen Chiffre für die Herrschaft Stalins geworden. Sie gelten als Paradebeispiel politischer Justiz und markierten Höhepunkte des stalinistischen Terrors - in einer Zeit, in der in der UdSSR zugleich die angeblich demokratischste Verfassung der Welt in Kraft trat.
Das merkwürdige Zusammenspiel von Recht und Terror und die Widersprüche von Verfassungstext und -wirklichkeit haben seit jeher das Interesse der historischen wie rechtshistorischen Forschung auf sich gezogen: Zur Diskussion standen - und stehen - nicht nur die faktischen Abläufe und Opferzahlen der Säuberungs- und Mordwellen, sondern neben Funktionsweisen und Aufgaben der Justiz auch die Motivationen und Ursprünge stalinistischer Gewalt. [1]
Diese Kernfragen hat auch John Hostettler in den Mittelpunkt seiner recht knappen, flüssig geschriebenen Monografie gestellt. Hostettler hat sich vor allem mit Werken über Persönlichkeiten und Entwicklungen des britischen Rechts einen Namen gemacht. Seine nun vorgelegten Überlegungen stützen sich wohl daher vornehmlich auf den breiten Fundus an englischsprachiger Forschungsliteratur, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Publikationen vor der Jahrtausendwende. Neben dieser verzögerten Rezeption und dem Verzicht auf die umfangreichen relevanten russischen Quellenpublikationen der letzten Jahre fällt auf, dass trotz der thematischen Nähe das Standardwerk Peter Solomons zur Strafjustiz im Stalinismus nicht zurate gezogen wurde. [2]
Hostettler setzt es sich zum Ziel, nach einer kurzen Darstellung der Rechts- und Staatstheorien von Marx, Engels sowie Lenin deren Entwicklung beziehungsweise Verzerrung durch Stalin und seine Juristen zu untersuchen. Dies will er durch eine genaue Beschreibung der Rechtswirklichkeit unter Stalin erreichen. Die justizielle Vorgeschichte des Stalinismus zeichnet Hostettler in zwei Kapiteln über die 1920er-Jahre unter der Prämisse nach, dass im Kriegskommunismus bereits die "Basis" für Stalins Regime gelegt worden sei (30). Neben dieser Interpretation, die umstritten ist, aber in den letzten Jahren wieder deutlich an Gewicht gewonnen hat, durchziehen mehrfach totalitarismustheoretische Klänge Hostettlers Beschreibung (u. a. 7, 17). Hier hätte sich der Rezensent eine grundsätzliche Diskussion des empirischen Werts dieser Interpretationsansätze für die Erforschung stalinistischer Justiz gewünscht, die sich nicht in der Postulierung von Glaubenssätzen erschöpfte.
Die Darstellung der Herrschaft Stalins folgt dann den konventionellen Pfaden einer Geschichte des Stalinismus. Hierbei wird die analytische Unterscheidung von Recht und Terror leider nicht mehr konsequent beibehalten, da das - negative - Ergebnis aller derartigen Untersuchungen zum wechselseitigen Verhältnis für Hostettler per se festzustehen scheint. Behandelt werden der erste Fünfjahresplan mit den Industrieprozessen, Landwirtschaftspolitik und Kollektivierung, die politischen Artikel des russischen Strafgesetzbuchs, der Mord an Kirov und, vergleichsweise ausführlich, die Schauprozesse gegen Zinov'ev, Radek, Bucharin und ihre Mitangeklagten. Ein kleiner Abstecher in das Smolensker Archiv erlaubt einige generelle Aussagen über das Justizwesen in der Provinz. Die Vorstellung der rechtstheoretischen Entwicklungen in der UdSSR anhand ihrer allerwichtigsten Vertreter schließt die Darstellung ab.
Im Anhang gibt Hostettler dem Leser eine Chronologie der Jahre 1917 bis 1956 sowie Kurzbiografien von 14 "Schlüsselfiguren" der Periode an die Hand. Das entsprechende Auswahlverfahren ist allerdings nicht ganz nachvollziehbar (so fehlen u. a. Vorsitzende des Militärkollegiums des Obersten Gerichts, Vertreter des NKGB/MGB usw.). Wenn zudem drei der vierzehn Plätze durch Lenin, Stalin und Trockij beansprucht werden und die Angaben zu Werdegang und Ämtern unvollständig bleiben, verliert eine derartige Zusammenstellung ihren Sinn. Im Fazit spricht Hostettler von der völligen Bedeutungslosigkeit legaler Grundkonzepte in der UdSSR und sieht das Recht bzw. die Justiz als bloße Fassade, die den alles beherrschenden Terror zu legitimieren hatte (139, 164 f.).
Diese Bewertung hat zunächst einmal - natürlich - einiges für sich. Die insgesamt stark verkürzte Darstellung des Stalinismus durch Hostettler lässt indes Themen und Fragen offen, die erst noch in eine Gesamtbewertung integriert werden müssten. So widmet Hostettler den Kriegsjahren gerade einmal eine Seite, obwohl z. B. die Militärjustiz nicht nur gegenüber Angehörigen der Roten Armee, sondern ab 1941 und 1944/1945 in den sowjetisch besetzten Gebieten eine wichtige Rolle als Instrument stalinistischer Politik spielte. Eine Auseinandersetzung mit den harten Arbeitsgesetzen oder den Erlassen zum Schutz des Eigentums von 1947 hätte zudem die Politisierung der gesamten Justiz deutlich werden lassen. Schließlich bleibt eine angemessene Einordnung der Nachkriegsjahre mit der Abschaffung und Wiedereinführung der Todesstrafe und den düsteren "Affären" und "Verschwörungen" ab 1950 in eine Justiz- und Gewaltgeschichte des Stalinismus aus.
Generell müsste deren Beschreibung außen- wie kulturgeschichtliche Überlegungen stärker integrieren, als es Hostettler im Ganzen gelingt. Ein anderes Beispiel hierfür ist die weitgehende Vernachlässigung nationaler Schicksale unter Stalin: Deportationen etwa aus Grenzgebieten begannen bekanntermaßen schon vor 1940 (160). Die jüngste Forschung hat die Bedeutung der gesamten Nationalitätenpolitik für das stalinistische Herrschaftsverständnis und -gebaren eindringlich offen gelegt. [3] Dass hierzu aber auch ein "Genozid" an der ukrainischen Bevölkerung gehört, wie Hostettler analog zur nationalistischen ukrainischen Geschichtsschreibung behauptet, darf freilich mit Fug und Recht bezweifelt werden (81).
Damit kann Hostettler anhand diverser Beispielen zwar tatsächlich beschreiben, auf welche Weise das Recht unter Stalin für politische Zwecke missbraucht wurde. Dies war aber einschließlich der ausgewählten Beispiele im großen und ganzen eben auch schon der vorhandenen Forschungsliteratur zu entnehmen. Den Schritt hin zu einer Justizgeschichte des Stalinismus, die die eingangs skizzierten Fragen aufnimmt und die Konzentration auf die 1930er-Jahre aufgibt, hat der Autor leider nicht gewagt.
Der Wert der im Titel so viel versprechenden Arbeit Hostettlers wird nicht nur durch die erwähnten Auslassungen eingeschränkt, sondern auch durch diverse Ungenauigkeiten: Das NKVD z. B. gab es in den 1920er-Jahren noch nicht, es wurde erst 1934 gegründet (44 f.), und die berüchtigte Sonderkommission von NKVD-NKGB, die OSO, durfte natürlich auch Todesurteile verhängen (89).
Auf diese Weise bietet die Arbeit Hostettlers einen nicht immer unproblematischen Abriss des Stalinismus und seines Terrors. Die komplexe und sich wandelnde Rolle der Justiz in den verschiedensten Bereichen wird dagegen nur wenig greifbar.
Anmerkungen:
[1] Zuletzt vgl. Jörg Baberowski, Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003.
[2] Peter H. Solomon, Soviet criminal justice under Stalin, Cambridge 1996. Unberücksichtigt blieb auch das von Stephane Courteois hg. Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror (5. Aufl. München 1998). An Editionen u. a.: Stalin i Kaganovič. Perepiska. 1931-1936 gg., Sost. O. V. Chlevnjuk u. a. Moskau 2001; Reabilitacija. Kak eto bylo. Dokumenty Prezidiuma CK KPSS I drugie materially, A. N. Jakovlev (Hg.), 3 Bände, Moskau 2000-2004.
[3] Vgl. etwa A. E. Rieber, Stalin. Man of the borderlands, in: AHR 53 (2001), 1651-1691.
Andreas Hilger