Andreas Schulte (Hg.): Wald in Nordrhein-Westfalen, Münster: Aschendorff 2003, 2 Bde., 1082 S., 300 Farb-, 150 s/w-Abb., 250 Schaubilder und Tabellen, ISBN 978-3-402-06481-8, EUR 145,00
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Mit Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands, werden wohl eher große Städte und Industrie als Holz und Wald verbunden. Immerhin jedoch sind 27% der Fläche von Nordrhein-Westfalen mit Wald bedeckt und als wirtschaftlicher Faktor nehmen die Bereiche Wald und Holzindustrie - mit über 200.000 Beschäftigten und ca. 32 Milliarden Euro Umsatz (2001) - eine bedeutende Position ein. Auf über tausend Seiten Hochglanzpapier mit zahlreichen großen farbigen Abbildungen, Diagrammen, Grafiken, so genannten Infoboxen und anderen Illustrationen verdeutlichen die beiden Bände die zentrale Rolle, die der Wald in Nordrhein-Westfalen nicht nur in der Geschichte, sondern auch heute noch inne hat.
Das voluminöse Werk versteht sich als Handbuch für alle, die sich aus verschiedensten Gründen für den nordrhein-westfälischen Wald interessieren. Es entstand mit finanzieller Unterstützung des Landesministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und versucht, "ein interdisziplinäres Gesamtbild aller Facetten des Waldes und seiner multifunktionalen Nutzung aufzuzeigen und [...] allen am Wald interessierten einen Anstoß zu geben, die Geschichte, die Gegenwart und Zukunft der Wälder in Nordrhein-Westfalen aus einem möglichst ganzheitlichen Blickfeld zu sehen" (VIII). Fast achtzig Autorinnen und Autoren aus zahlreichen Fachrichtungen (Wissenschaft und Politik, Forst- und Jagdverwaltung, Natur- und Umweltschutzverbände und -vereine sowie holzbe- und verarbeitende Industrie) lieferten Beiträge und hatten die Aufgabe, die "Quellen wissenschaftlich objektiv, aber allgemein verständlich aufzuarbeiten" (VII). Den zweiten Band beschließen ein Autorenverzeichnis sowie ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis.
Die beiden Bände gliedern sich in insgesamt zehn Kapitel und beschäftigen sich mit den sozialen, gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Aspekten des Waldes. So werden zum Beispiel das Ökosystem Wald, die Geschichte der Waldnutzung und der Jagd, moderne Forstwirtschaft und Globalisierung, Wald und Naturschutz, Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie Holzwirtschaft dargestellt. In ihren Beiträgen gehen die Autorinnen und Autoren in Unterkapiteln jeweils auf die spezifische Situation in Nordrhein-Westfalen ein. Jedoch werden zumeist Verbindungen zur allgemeinen Problematik von Forst und Wald hergestellt, sodass viele Beobachtungen auch eine allgemeinere Gültigkeit beanspruchen können. So wird im letzten Kapitel des zweiten Bandes etwa ein Ausblick auf eine (mögliche) Forstpolitik auf europäischer Ebene gegeben.
Im Vordergrund vieler Beiträge stehen die Multifunktionalität und der Wandel des Waldes, vom mittelalterlichen Nährwald zum frühneuzeitlichen Rohstofflieferant und schließlich zum Erholungsort der Gegenwart. Neben der Ressource Holz werden vor allem die gesellschaftlichen Schutzfunktionen des Waldes behandelt, die sich nicht einmal ansatzweise finanziell berechnen lassen. Genannt seien hier unter anderem die Bereiche Trink- und Hochwasserschutz, Lärm-, Klima- und Bodenschutz, die Verhinderung von Erosion sowie Biotop-, Arten- und Landschaftsschutz. Letztendlich bestimmt heute der Mensch durch seine Ansprüche, welche Funktionen und welchen Wert der Wald hat.
Im ersten Band wird zunächst auf die natürliche Vegetation und die Waldkulturlandschaften eingegangen. Es wird deutlich, dass die Landschaft und damit auch der Wald einem mehrere Jahrtausende andauernden Einfluss des Menschen ausgesetzt gewesen ist. Vor diesem Hintergrund leuchtet es unmittelbar ein, dass es schon lange keinen natürlichen Wald mehr gibt, sondern nur vom Menschen gestaltete Natur- und Kulturlandschaften (Andreas Schulte, Ewald Gläßer).
Im zweiten Kapitel wird die Geschichte des Waldes ausführlich vorgestellt. Dabei werden klassische Fragen und Probleme der Forstgeschichte (etwa die Holznot und die Entstehung der forstlichen Nachhaltigkeit in der Frühen Neuzeit) auf dem neuesten Forschungsstand differenziert behandelt. Greifbar wird etwa, dass die Quellen zum Konfliktfeld Wald aus dieser Zeit mit besonderer Vorsicht zu interpretieren sind, da sie nicht unbedingt die tatsächliche Situation wiedergeben müssen. Nicht nur in der Forstgeschichte ist die Auseinandersetzung um die Grundlage und Reichweite der vermeintlichen Holznot schon seit Jahrzehnten ein umstrittenes Thema. Es werden konstruktive Vorschläge zur Interpretation forstgeschichtlicher Quellen gemacht, so etwa, wenn immer gefragt werden soll, welche Interessen sich hinter den Klagen über Holznot verbargen (Bernward Selter, Bernd-Stefan Grewe).
Eine Besonderheit stellen die Waldzerstörungen im Zweiten Weltkrieg dar. Innerhalb des ganzen Bundesgebiets waren in Nordrhein-Westfalen nach dem Krieg die größten Waldschäden (ca. 120.000 ha Freifläche) zu beklagen: Durch den hier errichteten Westwall war das Gebiet zwischen Niederrhein und Schnee-Eifel zu einer Zone intensiver Kämpfe geworden. Auch kam es in den ersten Jahren nach dem Krieg wiederholt zu großflächigen Waldbränden und Borkenkäferkalamitäten. Es musste aber nicht nur der Wald neu aufgeforstet werden, sondern auch die Beziehung zwischen dem Wald bzw. der Forstwirtschaft und der Gesellschaft völlig neu geregelt werden (288). Eine Besonderheit ist in diesem Zusammenhang die Aufforstung durch so genannte Pflanzfrauen.
Wie in keinem anderen Gebiet Deutschlands machte sich die Umweltverschmutzung durch die Schwerindustrie des Ruhrgebietes schon am Anfang des 20. Jahrhunderts bemerkbar. In den 1920er-Jahren waren so genannte Rauchschäden an den Wäldern durch Industrieabgase ein wichtiges Thema; sie können als Prolog zur Verschmutzungs- und Waldsterbensdebatte der 1970er- und 1980er-Jahre gesehen werden. Da in den 1920er-Jahren ernsthaft befürchtet wurde, dass in absehbarer Zeit keine Land- und Forstwirtschaft im Ruhrgebiet mehr möglich sein würde, folgten Schutzbestimmungen, die sich in vielen Verordnungen und Gesetzen niederschlugen. In den 1980er-Jahren erreichten die Alarmrufe über den "sterbenden Wald" einen Höhepunkt, die in den 1990er-Jahren wieder abebbten. So interessieren die Öffentlichkeit und die Medien sich gegenwärtig weniger dafür, dass ca. 27% der Bäume in den nordrhein-westfälischen Wäldern geschädigt sind.
Pro und Kontra vieler Tätigkeiten, die sich in und um den Wald abspielen, werden in vielen Beiträgen ausführlich dargestellt (Andreas Schulte, Bernward Selter). Auch dass der Wald heute noch ein stark reglementierter Bereich ist, wird wiederholt hervorgehoben (Heimo van Elsbergen, Bernhard Heukamp). Ob es den Bereich Umwelt- und Naturschutz mit dutzenden Schutzgebietskategorisierungen, die Gesetzgebung zu naturnaher Waldwirtschaft oder die Ausübung der Jagd betrifft - die Liste der Verordnungen und Gesetze ist lang. Die Lektüre dieser Passagen ist gelegentlich recht trocken, zeigt aber die Komplexität für den (modernen) Umgang mit dem Wald. In diesem Kontext ist auf einen Schwerpunkt an Beiträgen hinzuweisen, die im weitesten Sinne den Waldschutz der Gegenwart zum Thema haben. Hier wird greifbar, wie komplex die Ursachen der Waldzerstörungen heute sind (z. B. Ökosystemzerstörung und Abnahme der Biodiversität) und wie auf vielfältige Weise versucht werden muss, ihnen entgegen zu wirken. Auch wenn der Abschnitt über die Holzwirtschaft ein wenig den Beigeschmack eines bunten Werbeprospektes für verschiedene Firmen und Produkte aus Nordrhein-Westfalen hat, lässt er sich doch mit der großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung des Waldes begründen.
Eine zentrale Funktion der beiden Bände besteht in der Aufklärung über den heutigen Umgang mit dem Wald; sei es von wirtschaftlichen, ökologischen, wissenschaftlichen oder sozialen Akteuren. Diese Aufklärung funktioniert nur, indem auch die historische Perspektive gewinnbringend eingebunden wird. Spezifische Eigenheiten des Waldes in Nordrhein-Westfalen werden dabei in den Vordergrund gestellt, ohne dass der Blick für das Ganze verloren geht. Dem Anspruch, ein breites Publikum anzusprechen und zu informieren, werden die Bände gerecht. Darüber hinaus findet jeder Interessierte ausführliche Hinweise auf weiterführende und vertiefende Literatur zu den verschiedenen Themenbereichen.
Isabelle Knap