Matthias Piefel: Antisemitismus und völkische Bewegung im Königreich Sachsen 1879-1914 (= Berichte und Studien; Bd. 46), Göttingen: V&R unipress 2004, 188 S., ISBN 978-3-89971-187-5, EUR 22,90
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Die Forschung zur Genese des Antisemitismus in Deutschland hat gerade für die Entstehungsgeschichte des politischen Antisemitismus im Kaiserreich in den letzten Jahren deutliche Fortschritte erreicht. Dennoch fehlen bis heute auf der Ebene der einzelnen Länder und Regionen des Reiches Detailstudien, die die konkreten Vorgänge und die antisemitische Praxis vor Ort analysieren, obgleich gerade eine solche Verknüpfung von makro- mit mikrostrukturellen Entwicklungen die wesentlich konkretere und damit für einen Erkenntnisgewinn heuristisch interessantere Vorgehensweise darstellt. Für das in Deutschland neben Hessen wichtigste Land liegt jetzt mit der Studie von Matthias Piefel erstmals eine grundlegende Untersuchung zur Entwicklung von Antisemitismus und völkischer Bewegung im Königreich Sachsen während des Kaiserreiches vor.
Abgesehen von der politischen Rückständigkeit erwarb sich Sachsen im Kaiserreich auch noch den zweifelhaften Ruhm, das "Kernland des Antisemitismus" (12) darzustellen. Die Residenz- und Hauptstadt Dresden war die erste Kommune, in der Antisemiten das Stadtparlament dominierten, während jüdische Stadtverordnete systematisch aus der lokalen Selbstverwaltung hinausgedrängt wurden. Ein Viertel aller im Reichstag vertretenen antisemitischen Abgeordneten kamen aus Sachsen.
Wie konstruiert der politische Antisemitismus insgesamt war, wie eng er mit anderen politischen und sozialen Bewegungen zusammenhing und dadurch überhaupt erst seine gesellschaftliche Relevanz erhielt und in welchem Maße der Antisemitismus zu allen Zeiten zunächst ein Problem der Antisemiten selbst war, zeigt die Tatsache, dass es in Sachsen eigentlich überhaupt keine Grundlage für einen besonders ausgeprägten Antisemitismus gab. Im Vergleich zu den anderen Gliedstaaten des Reiches verfügte das Königreich über einen der geringsten Anteile von jüdischer Bevölkerung. So lebten 1871 bei insgesamt 2,6 Mio. Einwohnern gerade einmal 0,13% jüdische Einwohner in Sachsen (Preußen 1,3%, Hessen 3,0%), bis 1910 stieg der Anteil aufgrund von Zuwanderungen aus dem Osten auf gerade einmal 0,37% an.
Wie, so die Ausgangsfrage der Arbeit von Piefel, war es angesichts dieser Tatsachen möglich, dass ausgerechnet Sachsen zu einem Zentrum der in den späten Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts anwachsenden antisemitischen Bewegung avancieren konnte? Die Studie entstand als Magisterarbeit beim Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden, die Druckfassung besorgte nach dem plötzlichen Tod des Autors im Februar 2004 Carsten Schmidt.
In zwei knappen Einleitungskapiteln von jeweils sechs Seiten werden Thema, Ziele und Aufbau der Arbeit sowie als Hintergrund das "jüdische Leben in Sachsen" seit dem 17. Jahrhundert referiert. In den sechs Hauptkapiteln umreißt Piefel dann die Geschichte der antisemitisch-völkischen Bewegung im Königreich Sachsen bis 1914. Im Mittelpunkt der Darstellung steht dabei überwiegend die organisatorische Entwicklung der Bewegung mit ihren verschiedenen Strömungen sowie ihren wichtigsten Protagonisten, die ausführlich porträtiert werden.
Zunächst schildert Piefel die Anfänge im September 1879 durch den beruflich gescheiterten Textilfabrikanten Alexander Pinkert und dessen "Dresdner Reformverein", die Ausweitung der "Reformvereinsbewegung" auf Reichsebene sowie Dresden und Chemnitz 1882 als schillernde Zentren der ersten internationalen Antisemitenkongresse. Im Mittelpunkt des zweiten Hauptkapitels steht der Leipziger Mühleningenieur Theodor Fritsch, der als Altmeister der völkischen Bewegung" (11) und Verleger der "Antisemitischen Correspondenz" für eine Belebung des Antisemitismus Mitte der 1880er-Jahre sorgte. Im Mittelpunkt der weiteren Kapitel stehen die Funktion des Nietzsche-Herausgebers Ernst Schmeitzner sowie die 1889 in Leipzig gegründete "Deutsch-Soziale Partei" mit ihren Protagonisten Theodor Fritsch, Max Liebermann von Sonnenberg und Paul Förster. Ab 1900 dominierte in Sachsen im politischen Antisemitismus die Deutsche Reformpartei, die für diese Zeit im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Eine etwas knapp geratene Schlussbemerkung (2,5 Seiten), ein ausführliches Quellenverzeichnis sowie ein etwas knapperes Literaturverzeichnis schließen den Band ab, dem, wie leider bei immer mehr Monografien üblich, von den Bearbeitern und Herausgebern kein Register beigegeben wurden.
Die Gesamtergebnisse der Arbeit, die sich seltsamerweise nicht nur in der Schlussbemerkung, sondern auch in der Einleitung finden, machen den Wert der Studie aus. Zum einen weist Piefel mit Nachdruck darauf hin, dass der Antisemitismus in Sachsen in erster Linie eine Erscheinung des Mittelstands in Handwerk und Handel war, die sich in der Rezession der Gründerkrise in einem Existenzkampf befanden. Ob es sich beim sächsischen Antisemitismus um eine "populistische Rebellion" handelte, die als "Bestandteil der Geschichte des sächsischen Sozialprotests" gewertet werden sollte [1], mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls bot die ausgeprägte Polarisierung der politischen Kultur zwischen der sozialdemokratischen Seite sowie der bürgerlichen, konservativ-nationalliberalen Kartellpolitik den antisemitischen Agitatoren die Möglichkeit, sich als Vertreter dieser aus ihrer Sicht bedrohten Bevölkerungskreise zu profilieren (10, 174). Dabei handelte es sich beim sächsischen Antisemitismus um eine Bewegung der größeren Städte. In der Schlussbemerkung versucht Piefel den politischen Antisemitismus des Kaiserreiches in seinen Auswirkungen und Prägungen für die Katastrophe des NS-Antisemitismus, den "Zivilisationsbruch des Dritten Reiches" (174), zu bewerten. Der Autor sieht dabei auf verschiedenen Ebenen "Kontinuitätslinien" und für den Antisemitismus der NSDAP im Kaiserreich bereits ein ideologisches Arsenal ausgebildet, aus dem dann zwanzig Jahre später geschöpft werden konnte. Für Sachsen konstatiert der Autor am Ende des Kaiserreiches eine 35-jährige antisemitische "Kontinuität, die im Reichsvergleich fast einzigartig sein dürfte" (173).
Da es sich bei der Studie um eine Magisterarbeit handelt, sind an sie nicht die Erwartungen an die Standards einer Dissertation zu legen. So mangelt es dem Werk insgesamt an einer genauen Einbindung der politischen antisemitischen Bewegung in Sachsen in den ideengeschichtlichen Kontext der Bewegung. Wie die aus den Periodika und der reichhaltig ausgewerteten Broschürenliteratur geschilderten ideologischen Standpunkte konkret in der Bevölkerung ankamen und inwieweit dieses Phänomen den Alltag der Juden tatsächlich beeinflusse, erfährt der Leser kaum. Auch auf die Fragen, ob die Anfänge des politischen Antisemitismus wirklich erst auf die 1870-Jahre datiert werden können und wie die Erkenntnisse der Studie in den Gesamtkontext der Forschung eingebettet werden können, erhält der Leser keine befriedigende Antwort.
Die bemerkenswerten Stärken der Arbeit liegen in der soliden Analyse einer eindrucksvollen Quellengrundlage, zu der neben zeitgenössischen Periodika auch die wichtige antisemitische Broschürenliteratur gehört. So wurden auch der Archivbestand der Hauptgeschäftsstelle der "Deutsch-Sozialen Reformpartei" im Bundesarchiv Berlin sowie Spezialbestände des Staatsarchivs Leipzig zu Agitatoren wie Heinrich Pudor und Theodor Fritsch einbezogen. Spannend zu verfolgen ist die Quellenauswertung des Autors im Hinblick auf die Konkurrenzkämpfe der verschiedenen antisemitischen Protagonisten und Bewegungen, ihre Kommunikation sowie die perfide Art ihrer Vorgehensweise, die die sächsische Staatsverwaltung deckte.
Insgesamt bedeutet die gut lesbare Arbeit gerade für die regionale Konkretisierung des politischen Antisemitismus im deutschen Kaiserreich einen beachtlichen Fortschritt. Es ist außerordentlich zu bedauern, dass es dem Autor nicht mehr vergönnt war, diese Studie zu einer Gesamtdarstellung des politischen Antisemitismus in Sachsen vom Kaiserreich bis zum Dritten Reich auszubauen.
Anmerkung:
[1] So Katrin Keller: Landesgeschichte Sachsen, Stuttgart 2001, 291.
Harald Engler