Rezension über:

Nicholas F. Jones: Rural Athens Under the Democracy, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2004, xiv + 330 S., ISBN 978-0-8122-3774-0, GBP 39,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Karl-Wilhelm Welwei
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Wilhelm Welwei: Rezension von: Nicholas F. Jones: Rural Athens Under the Democracy, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/02/5886.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Nicholas F. Jones: Rural Athens Under the Democracy

Textgröße: A A A

Der Verfasser will untersuchen, inwieweit die ländlichen Gebiete Attikas von einer spezifisch nicht-urbanen Lebensweise im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. dominiert wurden und wie dies in der zeitgenössischen Literatur zum Ausdruck kam. Das zentrale Problem ist die Frage, ob das klassische Athen insgesamt gleichsam eine monolithische Einheit bildete oder eher eine lockere Verbindung von Teilen darstellte, die nur in der Rhetorik und in der 'Ideologie' in Zeiten äußerer Bedrohung als einheitliches Ganzes gesehen wurde. Das Buch soll ein umfassendes Bild der Gesellschaft und Kultur des athenischen Polisgebietes außerhalb der Mauern Athens bieten.

In der umfangreichen Einleitung (1-16) skizziert Jones zunächst die wichtigste einschlägige Fachliteratur. Er legt hier des Weiteren dar, dass er weder spezielle Fragen der Landwirtschaft noch die Anordnung der Demen im System der Trittyen und Phylen noch die Details der Reformen des Kleisthenes erörtern will und den Begriff Chora nicht im Sinne von Territorium verwendet, sondern hiermit das "Land" im Gegensatz zur "Stadt" bezeichnet (8). Methodische Schwierigkeiten ergeben sich für ihn dadurch, dass aus den zahlreichen Nachrichten, die Aufschlüsse über ländliche Verhältnisse gleichsam aus städtischer Perspektive bieten, Informationen zur Situation in der Chora herausgefiltert werden müssen. Es gelingt ihm insgesamt gesehen durchaus, auf diese Weise Relikte einer prä-urbanen Sozialordnung zu erschließen. Seine Thematik überschneidet sich mehrfach mit Teilaspekten der ungefähr gleichzeitig publizierten wegweisenden Untersuchung von Winfried Schmitz, die Jones nicht mehr heranziehen konnte. [1]

Jones provoziert freilich bereits am Schluss der Einleitung erheblichen Widerspruch, indem er hier einige in seinem Buch vertretene Thesen anführt, die in einem markanten Kontrast zur communis opinio stehen. Die Reformen des Kleisthenes haben nach seiner Auffassung keine langfristig effektive Integration der Bürger aus der attischen Chora in die Polisgemeinschaft bewirkt, weil die Politen aus den ländlichen Gebieten und aus der Stadt nur im Aufgebot zeitweise zusammengeführt worden seien. Die erbliche Demenzugehörigkeit habe keine topografisch orientierte Repräsentation in der Boulé der 500 ermöglicht, und im Grunde sei das demokratische System von den Bürgern aus der Stadt klar dominiert worden (15). Die kleisthenische Ordnung lässt aber darauf schließen, dass die neue politische Organisation 508/507 gerade auf eine Stärkung der Einheit von Stadt und Land abzielte und die verschiedenen Regionen der Chora durch die Zusammensetzung des Rates der 500 enger an den zentralen Ort der Entscheidungsfindung binden sollte. Nicht zuletzt dürfte auch die Zusammensetzung der Phylen bewirkt haben, dass alle Mitglieder dieser Verbände sich mit der umfassenden Einheit der Polisgemeinschaft identifizieren konnten. Immerhin hatte das System fast zwei Jahrhunderte Bestand. Es konnte bekanntlich weder vom Regime der "Vierhundert" noch von der Herrschaft der "Dreißig" beseitigt werden. Politische Spannungen, die zu einer bewaffneten Konfrontation von Stadt- und Landbevölkerung führen konnten, haben sich nicht aufgebaut. Die Bürger in allen Regionen Attikas empfanden offensichtlich die von Jones kritisierten vermeintlichen Defizite der politischen Organisation nicht als gravierend.

Jones ist selbstverständlich bemüht, seine Thesen durch eine Fülle von Belegen zu unterbauen. Im ersten Kapitel (17-47) erörtert er vor allem den Siedlungsbefund in der Chora, der ergeben hat, dass in einer Reihe von klassischen Demen kein eigentliches Siedlungszentrum existierte. Dieses Problem hat bereits Hans Lohmann 1989 beziehungsweise 1993 auf breiter archäologischer Basis ausführlich dargelegt. [2] Auf das Problem der offenbar wechselnden Zahl der Demen in klassischer Zeit geht Jones nicht näher ein. [3]

Im Blick auf die Siedlungsstrukturen untersucht Jones im zweiten Kapitel (48-90) die Verbundenheit der Landbevölkerung mit ihrer lokalen Umgebung und der Gesellschaft in ihrem jeweiligen Demos sowie die Möglichkeiten kommunaler Aktivitäten der Landbewohner mit Bürgerrecht. Er verweist hierbei mit Nachdruck auf gesellschaftliche Trennungslinien, die durch Rechtsstellung, sozialen Status und Geschlecht gegeben waren. Schwer nachzuvollziehen sind allerdings seine Ausführungen über ein von ihm vermutetes ausgeprägtes Patronagesystem im klassischen Athen. Er bezeichnet hier Kimon als "big man of Lakiadai" und beruft sich hierbei auf die bei Aristoteles, Athenaion Politeia 10,1-3, Theopompos, Fragmente der Griechischen Historiker 115, F 89, und Plutarch, Kimon 10,1-3, vorliegenden Nachrichten über die Großzügigkeit, die Kimon in Sonderheit gegenüber Armen in seinem Demos bewies (76). Es ist zweifellos verfehlt und inakzeptabel, den bedeutenden athenischen Strategen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 5. Jahrhunderts mit der Position eines "big man" in vorstaatlichen Gesellschaften etwa in Papua Neu-Guinea zu vergleichen. Im Übrigen war der Euergetismus Kimons schwerlich ein systemimmanentes Phänomen einer bestimmten Form von Patronage in Attika nach der Konstituierung der kleisthenischen Demen.

Die teilweise generalisierenden Ausführungen der beiden ersten Kapitel ergänzt Jones in den folgenden Sektionen (91-158) durch Fallstudien zu einigen relativ gut dokumentierten größeren Demen (Acharnai, Axione, Halai Aixionides) sowie zu den so genannten ländlichen Dionysien, die in einigen größeren Demen gefeiert und auch von Bewohnern kleinerer Demen und der Stadt Athen frequentiert wurden.

In den drei letzten Kapiteln (159-272) versucht Jones, seine aus den Detailstudien gewonnenen Ergebnisse zu einem Gesamtbild von der Lebenswelt in der attischen Chora zusammenzufassen und mit der Darstellung dörflicher Verhältnisse in der Literatur und in der Philosophie des 5. und 4. Jahrhunderts zu vergleichen. Es liegt in der Natur der Sache, dass hier verschiedentlich Wiederholungen zu konstatieren sind. Man trifft aber auch wieder auf den imaginären "big man" im Nahverhältnis zwischen größeren Landbesitzern und Kleinbauern (161), die freilich durchaus in der Lage waren, mit ihrem Anwesen eine Familie zu ernähren. [4]

In den Mittelpunkt der poetischen Aussagen zur Thematik des Landlebens stellt Jones Texte der Alten, Mittleren und Neuen Komödie. Die einschlägigen Stellen sind freilich infolge skurriler Verzerrungen und der durch das Genre bedingten Übertreibungen und theatralischer Einfälle nur mit einigem Vorbehalt auszuwerten. Jones möchte aus Menanders Dyskolos (Z. 201-202) einen einfachen Syllogismos erschließen, der zum Ausdruck bringen soll, dass der typische Städter körperliche Arbeit auf dem Lande als sklavische Tätigkeit betrachtet habe (225). Menanders Bild des Sklaven ist aber sehr differenziert. [5] Treffend beurteilt Jones hingegen die "ländlichen Typen", die Theophrast in den Charakteres aus städtischer Sicht zeichnet (211-214).

Abschließend interpretiert Jones Stellungnahmen zum Landleben von Hippodamas von Milet, Phaleas von Chalkedon, Platon und Aristoteles. Die Akzente liegen hier auf der Interpretation der Einstufung der arbeitenden Landbevölkerung in Platons Politeia und Nomoi sowie in den Politika des Aristoteles. Neue Erkenntnisse, die unser Bild vom Alltag in der attischen Chora in wesentlichen Punkten bereichern könnten, sind hier indes nicht zu gewinnen.

Das Buch wird durch seine Materialfülle ein wichtiges Arbeitsinstrument bleiben. Die spezifische Lebenswelt in Attika ist insgesamt gesehen gut herausgearbeitet. Mehrfach ist aber auch Widerspruch zu erheben. Im politischen Bereich haben die Unterschiede zwischen Stadt und Land im athenischen Polisgebiet jedenfalls im Bürgerverband in klassischer Zeit keine gefährlichen Auseinandersetzungen heraufbeschworen, wenn in der Ekklesia weit reichende Entscheidungen zu treffen waren.


Anmerkungen:

[1] W. Schmitz: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004.

[2] H. Lohmann: Atene. Forschungen zu Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur im klassischen Attika, I-II, Köln / Weimar / Wien 1993 (als Bochumer Habilitationsschrift 1989 vorgelegt).

[3] Dazu jetzt D. Kienast: Die Zahl der Demen in der Kleisthenischen Demenordnung, in: Historia 54 (2005), 495-498.

[4] Dazu H. Lohmann: Die Chora Athens im 4. Jahrhundert v. Chr. Festungswesen, Bergbau und Siedlungen, in: W. Eder (Hg.): Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr. Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform?, Stuttgart 1995, 530.

[5] Vgl. Menander fr. 722 Koerte; dazu H. Klees: Sklavenleben im klassischen Griechenland, Stuttgart 1998, 292.

Karl-Wilhelm Welwei