Caroline Elkins: Britain's Gulag. The Brutal End of Empire in Kenya, London: Random House 2005, xiv + 475 S., ISBN 978-0-224-07363-9, GBP 20,00
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Die Dekolonisation des britischen Weltreichs ist ein Fundamentaldatum der jüngeren Geschichte. Das Tempo und die Geschmeidigkeit des Abschieds Großbritanniens von seinem Empire wurden von Zeitgenossen wie Historikern oft mit Verblüffung registriert. In der neueren, kulturalistisch gewendeten Forschung sind zwar Zweifel an Darstellungen gehegt worden, die ein End of Empire "ohne Traumata und ohne Tränen" [1] diagnostizieren. Doch insgesamt bestätigt ein genauerer Blick auf die innerbritische Dimension der Dekolonisation den Eindruck, dass der britische "disimperialism" das Mutterland weder konstitutionell noch tagespolitisch spürbar in Mitleidenschaft gezogen hat. Und auch die Betrachtung der Dekolonisation vor Ort fördert einen Gemeinplatz zutage, den komparativ angelegte Studien immer wieder zu untermauern scheinen: unbeschadet der Tatsache, dass das paneuropäische Projekt des Imperialismus die Menschen in der südlichen Hemisphäre mit Rassismus, Ausbeutung und Entwicklungsblockaden konfrontiert hat, präsentierte sich die britische Spielart der Kolonisierung stets als vergleichsweise human und aufgeklärt. Nicht von ungefähr bemühten die Verantwortlichen in London im Prozess der Dekolonisation häufig den Topos britischer "civility", um das eigene, vorgeblich sorgsam geplante und daher besonders sensible Vorgehen mit dem der übrigen Kolonialnationen zu kontrastieren: anders als die japanischen und deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs, anders auch als die renitenten Franzosen in Algerien oder die überforderten Belgier im Kongo, verabschiedete sich Großbritannien demnach nie, ohne zumindest einen Funken goodwill zu hinterlassen, der allen Beteiligten im Rückblick eine versöhnliche Gesamtschau ermöglichte.
Caroline Elkins geht nun mit dieser Lesart scharf ins Gericht. Bislang unbekannte Quellen und Aussagen von Zeitzeugen fügen sich in ihren Augen zu einem "astonishing portrait of destruction" (XIII), mit der die britischen Kolonialverwalter Kenias auf die Mau-Mau-Rebellion der fünfziger Jahre reagierten. Dabei sieht Elkins die akribische Vernichtung belastender Dokumente in britischen wie kenianischen Archiven als Indiz für das Ausmaß der Verbrechen in Kenia, wo während des bis 1960 andauernden Notstands "one of the most restrictive police states in the history of the empire" (61) entstand. Die Mau-Mau-Verschworenen aus der Ethnie der Kikuyu banden sich durch einen Eid aneinander, um die Enteignung von Land in ihren angestammten Regionen zu verhindern. Die dabei praktizierten Riten und die Überfälle auf weiße Siedler riefen die Gegenwehr der Kolonialherren hervor, deren nie weit von der Oberfläche entfernter Rassismus sich nun, Elkins zufolge, in eine regelrechte "eliminationist attitude" (115) verwandelte. Konnten etwa zur selben Zeit die kommunistischen Insurgenten in Malaya noch mit einer verhältnismäßig ausgewogenen Hearts-and-mind-Strategie vom Rest der Bevölkerung isoliert werden, was die Schärfe des Konflikts dämpfen half, so traf die Kikuyu die ganze Wucht der kolonialen Disziplinierungsmaschinerie. Liberale Ansätze, welche die berechtigten Klagen der Kikuyu berücksichtigten, verliefen fast vollständig im Sande: sie scheiterten entweder am Desinteresse der Verantwortlichen vor Ort oder an fehlenden Ressourcen. So geriet das Gros der Kikuyu in das Räderwerk einer Umerziehungskampagne, die mit äußerster Brutalität eine durchgreifende Säuberung Kenias von jeglichen Mau-Mau-Aktivitäten anstrebte.
Im Zentrum dieser Maßnahmen stand ein weit verzweigter Lagerkosmos. So genannte "screening centres" in den Zentralprovinzen und im Rift Valley dienten seit 1953 als Auffangstationen für verdächtige Kikuyu. Zwangsarbeit, kollektive Bestrafungen, Folter und Enteignungen gehörten zum Standardrepertoire der Kolonialherren. Weiße wie schwarze Wärter ergingen sich, so Elkins, in einer wahren Gewaltorgie, die deutlich mehr Opfer forderte als die offiziell 11.000 Toten. Bis Ende 1955 wurden zudem eine Million Kikuyu in streng bewachten Dörfern konzentriert, um den Kontakt zwischen den Aufständischen und deren Hinterland zu unterbinden. Das Aufsichtspersonal prügelte Geständnisse förmlich aus den Gefangenen heraus und unterwarf sie damit einer entwürdigenden Behandlung, die nicht nur den von Großbritannien unterzeichneten Menschenrechtskonventionen widersprach, sondern die Internierten allmählich jenem Bild annäherte, das eine rassistisch-suprematistische Stereotypie seit jeher von Afrikanern gezeichnet hatte. Elkins schildert beklemmende Akte staatlicher Willkür, die im Übrigen Fragen politischer Loyalität zum sozioökonomischen Schicksal der Kikuyu gerinnen ließ, denn jene, die sich durch Wohlverhalten gegenüber den Behörden auszeichneten, wurden mit attraktiven Verwaltungsposten und mit Landzuweisungen belohnt, die auch nach der Unabhängigkeit Kenias 1963 Bestand hatten.
Erhoben sich Stimmen, die - nicht selten im Namen der britischen mission civilisatrice - gegen die "in plain view" (80) begangenen Verbrechen protestierten, zogen Kolonialminister Alan Lennox-Boyd und seine Untergebenen in Parlament und Öffentlichkeit eine Nebelwand von "deceptions and outright lies" (292) auf. Einzelne Labour-Politiker wie Barbara Castle oder Fenner Brockway und ehemalige Kolonialbeamte wie Eileen Fletcher wurden meist pauschal als unsichere Kantonisten der politischen Linken desavouiert oder mit einer Rufmordkampagne mundtot gemacht. Elkins zufolge spielten dabei gerade die vor Ort tätigen Missionare eine unrühmliche Rolle, da sie in der Regel die archaischen Rituale der Mau-Mau als Ausfluss verirrter Seelen geißelten und das Vorgehen der Kolonialherren zumindest indirekt legitimierten. Erst der Versuch, die im Frühjahr 1959 ruchbar gewordene Tötung von Gefangenen im Lager Hola plump zu bagatellisieren, führte zu einem Aufschrei der Empörung [2], der die Regierung Macmillan dazu veranlasste, nun die Dekolonisation Afrikas merklich zu beschleunigen, um nicht gegenüber den bislang mit Geringschätzung bedachten Kolonialnationen Frankreich und Belgien ins Hintertreffen zu geraten.
Elkins' bemerkenswerte Studie lebt nicht zuletzt von pointierten Bewertungen. Dabei droht sie jedoch zuweilen jener "pornography of terror" (313) zu erliegen, die sie zum Angelpunkt ihrer Untersuchung macht. Elkins spricht den britischen Kolonisierern rundweg jeglichen zivilisatorischen Vorsprung vor deren "Mündeln" ab und sieht gerade die Politik Lennox-Boyds als Produkt einer Regierungskaste, die in ihrer beschränkten Upper-class-Perspektive nur auf das Wohl des Mutterlands und der weißen Siedler vor Ort bedacht war. Die schärfsten Geschütze fährt Elkins freilich auf, wenn sie das Vorgehen Großbritanniens in Kenia mit ähnlichen Gewaltstrukturen des 20. Jahrhunderts vergleicht. Die "charade of colonial trusteeship" (306) verhüllte dann nur notdürftig einen polizeilichen-ideologischen Lagerkomplex, der in seinen Anlagen und Konsequenzen nicht "wholly different from those in Nazi Germany or Stalinist Russia" (153) sei. Vor diesem Hintergrund erscheint es um so unverständlicher, dass das unabhängige Kenia keine Aufarbeitung dieser Vergangenheit betrieben, die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen und das Erbe der Mau-Mau nicht in die nationale Erinnerungskultur integriert hat. Die "state-imposed amnesia" (371) des ostafrikanischen Landes bildete so gewissermaßen eine Symbiose mit der legenda blanca des britischen Abschieds vom Empire.
Anmerkungen:
[1] So die viel zitierte Formel bei Kenneth O. Morgan: Britain Since 1945. The People's Peace, Oxford ³2001, 575.
[2] Hierbei tat sich insbesondere der später wegen seiner rassistischen Entgleisungen notorische Enoch Powell als koloniales Gewissen Großbritanniens hervor. Allerdings war Powell zu dieser Zeit, anders als von Elkins dargestellt, noch Mitglied der Konservativen Partei.
Gerhard Altmann