Hugh Bowden: Classical Athens and the Delphic Oracle. Divination and Democracy, Cambridge: Cambridge University Press 2005, xvii + 188 S., 12 ill., 2 maps, ISBN 978-0-521-53081-1, GBP 15,99
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Hugh Bowden versucht zu klären, welche Bedeutung das delphische Orakel für die attische Demokratie hatte, für die in der Zeit vor 300 v. Chr. 25 öffentliche Befragungen bezeugt sind, deren Historizität gesichert ist oder zumindest möglich erscheint. Dieses Thema ist Teil der umfassenderen Frage, wie Religion und Frömmigkeit Athens Politik beeinflussten.
Seine engagierte Analyse bezieht die einschlägigen Quellen, die z. T. ausführlich in Übersetzung zitiert werden, intensiv ein, nutzt ethnologisches Vergleichsmaterial und setzt sich eingehend mit anderen Forschungsmeinungen auseinander, wobei allerdings ein klarer angelsächsischer Bias zu verzeichnen ist, der sich auch in der Bibliografie niederschlägt.
Zunächst (1-11) wird dargelegt, dass die Entscheidungsfindung im demokratischen Athen stark durch das Bemühen bestimmt wurde, den Willen der Götter zu erkunden und ihren Wünschen zu folgen. Politische Entscheidungen unterschiedlicher Thematik (Kultdinge, Institutionelles, Reaktionen auf Krisen) hatten immer die Haltung der Götter zu berücksichtigen, die darum sorgfältig ermittelt werden musste, um ihr zu entsprechen und dadurch Sicherheit zu gewinnen. Die Beschlussfassung orientierte sich daher an Evidenz, die mittels verschiedener divinatorischer Praktiken [1] produziert wurde. Weisungen, die man so erhielt, standen regelmäßig im Fokus der Diskussion in einer Demokratie, die weder liberal noch individualistisch oder säkularistisch war, und besaßen in unterschiedlichem Maße Verbindlichkeit.
Divination wird heute z. T. als ein Mittel interpretiert, die anstehenden Probleme neu zu definieren und den Beschlüssen der Gemeinde den Anschein einer unabhängigen Autorität zu verleihen, die es ihren Angehörigen leichter machte, sich damit abzufinden. Bowden hält es aber für zu einseitig, ihre Funktion darin zu sehen, lediglich einen anderen Weg zu eröffnen, um ohnehin angestrebte Entscheidungen zu erreichen. Orakel wurden nicht herangezogen, um schon gefallene Entscheidungen zu bekräftigen, sondern in zentralen Angelegenheiten benötigt, bei denen die Mittel der Debatte nicht ausreichten.
Das erste Kapitel (12-39) erörtert die umstrittene delphische Orakelpraxis. Die einfach strukturierten Fragen an das Orakel wurden von der Pythia in klarer Sprache beantwortet. Die Quellen wissen nichts davon, dass sie sich unverständlich äußerte und andere Funktionäre ihre Worte sekundär ausformulierten. Weder sie noch Delphis Priester waren in der Lage, die komplexen Verhältnisse in Hellas zu überblicken, und haben folglich auch nicht im Sinne einer politischen Lenkung agiert. Dies gilt sowohl für die Außenpolitik als auch für die innere Ordnung der Poleis, ein Gebiet, auf dem das Manteion nicht die mitunter unterstellte Rolle eines Förderers von Neuerungen und Reformen spielte. Ebenso entschieden weist Bowden die Vorstellung von einem hohen, bewusst angestrebten Grad der Ambiguität der Orakel zurück: Zweideutigkeit war ein wichtiges Element der Geschichten über die Orakel, nicht aber ihrer selbst. Die Sprüche waren vielmehr einfacher und klarer Natur und boten zumeist eine Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten. Um diesen Kern wurden aber "Erzählungen" herumgesponnen, die zu modernen Missverständnissen beigetragen haben. Zu dieser Elaboration gehörten auch nachträgliche Hexameterfassungen der Sprüche, die in Delphi selbst in Buchform fixiert wurden.
Kapitel 2 (40-64) legt die Wertschätzung dar, die Delphis Weisungen in der Demokratie genossen. Weder kam es zu einem Bedeutungsschwund im 5. Jahrhundert v. Chr., noch schmälerte die wachsende Souveränität der Volksversammlung ihr Gewicht. In der ekklesía votierte mehrheitlich das einfache Volk, das nach Delphis Einschaltung verlangte und hier über dessen Sprüche informiert wurde. Seine Vorstellungen über das Orakel und dessen Autorität sind gut greifbar in der Tragödie, die ein positives Verhältnis Athens zum Apollon Pythios beschwor, der generell als Garant der Ordnung erscheint und speziell als Förderer von Athens Größe.
Kapitel 3 (65-87) fragt, was Autoren des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. über delphische Orakel dachten. Herodot, der sie am häufigsten integrierte, unterstrich damit das Einwirken der Götter in die Geschichte und setzte sie ein, um die dramatischen Züge des Geschehens zu unterstreichen. Die unterschiedliche Bedeutung, die Historiker oder Philosophen nach ihm Orakeln beimaßen, spiegelt nicht eine wachsende Skepsis der Athener, sondern basierte auf persönlichen Einschätzungen und den Perspektiven ihrer Werke und ist somit literarisch zu erklären.
An drei ausführlich vorgestellten Beispielen (88-108) lässt sich ablesen, welche Motive hinter einer Orakelbefragung stehen konnten und wie die Orakelsprüche und ihr historischer Hintergrund in der späteren Überlieferung "weiterverarbeitet" und literarisch funktionalisiert wurden. Letzteres wird besonders anhand der von Herodot überlieferten Orakel exemplifiziert, die sich auf Athens Verhalten gegenüber der Xerxes-Invasion bezogen. Bowden weist hier die Annahme einer promedischen oder defätistischen Haltung Delphis zurück und erschließt, dass Athen in dieser Situation nur eine Weisung erhielt, die, wohl von Herodot selbst, jedoch zu zwei Stellungnahmen umgestaltet wurde, um das Geschehen zu dramatisieren. Seine Erzähltechnik hat hier den Blick auf eine realiter weniger spektakuläre Orakelpraxis verstellt.
Es folgt (109-133) ein Überblick über die Angelegenheiten, in denen das Orakel befragt wurde. Die 'erhaltenen' Orakel sind allerdings nicht als repräsentativ zu betrachten, da die Autoren, die viele von ihnen überliefert haben, z. B. kaum Interesse an den zahlreichen Sprüchen hatten, die sich unmittelbar auf Kult und Religion bezogen. Umso mehr fällt auf, dass die meisten der an Delphi gerichteten Fragen ganz anderer Thematik mit Belangen von Göttern und Kulten verklammert wurden, die man vor allem der Pythia vorlegte. Mit der darauf bezogenen Weisung war dann auch eine solche betreffs des politischen, militärischen oder eines anderen Problems gegeben, das gerade anlag. Delphi vermittelte göttliche Zustimmung und Rückhalt für die Vorhaben, die anschließend mittels der demokratischen Entscheidungsprozeduren und Institutionen umgesetzt wurden.
Kapitel 6 (134-151) greift weiter aus und legt überzeugend dar, wie stark Belange von Göttern, Kulten und Heiligtümern oder auch Orakel die griechische Kriegführung beeinflussten, gerade was die Motivierung und Rechtfertigung von Kriegen betraf (Übergriffe auf heiliges Land, Zugang zu Tempeln und Opferstätten, Verweigerung von Opfern oder Weihungen, Kultfrevel, Hiketeia, der Status Delphis). Die verbreitete Auffassung, dass es sich hierbei um Vorwände mit Rechtfertigungsfunktion gehandelt habe, weist Bowden mit Recht als unangemessene Vereinfachung zurück, die zeitgenössischen Mentalitäten schwerlich entspricht.
Abschließend (152-159) hebt er hervor: Rückgriffe auf Mittel der Divination sind nicht als Infragestellung der Macht der ekklesía zu verstehen, die, ohnehin eingebettet in religiöse Rituale, auch deshalb als ein Ort der Kommunikation zwischen Göttern und Menschen erscheint. Zu stark zugespitzt wirkt allerdings das Resümee: "The Athenian democracy was above all a system for establishing and enforcing the will of the gods" (159). Hier besteht weiterer Klärungsbedarf, um das Verhältnis zwischen der Rationalität demokratischer Entscheidungsfindung, die Bowden nur punktuell berührt, und der Beeinflussung des Handelns durch Frömmigkeit und religiöse Erwägungen angemessener abzustecken. Dies schmälert jedoch kaum das Hauptverdienst des Buches, das die Notwendigkeit unterstreicht, die weit reichende - z. B. auch für Ackerbau und Kriegführung gültige - religiöse Verzahnung zahlreicher demokratischer Verfahren und Institutionen [2] sowie die Unterschiede zwischen der modernen säkularen Demokratie und ihrem antiken 'Ahnen' in den Diskurs über die Antriebskräfte der Politik Athens einzubeziehen.
Ein Schwachpunkt ist allerdings, dass Bowden die pylaiisch-delphischen Amphiktyonie (sie erscheint nicht einmal im Register) als politisch irrelevant einstuft (vgl. etwa 137 A.7) und nahezu vollständig aus den Beziehungen zwischen Athen und Delphi ausblendet.
Der Illustration dienen 12 Abbildungen, die in der mir vorliegenden Paperbackversion z. T. etwas blass oder auch zu klein wirken, zwei Karten sowie einige Tabellen im Text und in den Appendices. Hilfreich sind ein Quellenverzeichnis und ein knapper Subject Index.
Anmerkungen:
[1] S. zuletzt S. Iles Johnston / P.T. Struck (Hg.): Mantikê. Studies in Ancient Divination, Leiden 2005.
[2] Vgl. auch A. Rubel: Stadt in Angst. Religion und Politik in Athen während des Peloponnesischen Krieges, Darmstadt 2000.
Bernhard Smarczyk