Rezension über:

Gerold Ambrosius: Regulativer Wettbewerb und koordinative Standardisierung zwischen Staaten. Theoretische Annahmen und historische Beispiele, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 227 S., ISBN 978-3-515-08695-0, EUR 36,00
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Rezension von:
Richard Tilly
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Richard Tilly: Rezension von: Gerold Ambrosius: Regulativer Wettbewerb und koordinative Standardisierung zwischen Staaten. Theoretische Annahmen und historische Beispiele, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/05/9604.html


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Gerold Ambrosius: Regulativer Wettbewerb und koordinative Standardisierung zwischen Staaten

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Die hier zu besprechende Arbeit von Gerold Ambrosius nimmt sich viel vor. Unter Rückgriff auf neuere Theorien des institutionellen Wettbewerbs geht sie der Frage nach, ob zwischen den einzelnen deutschen Staaten im 19. Jahrhundert und ab 1871 zwischen dem Deutschen Reich und anderen Staaten ein Wettbewerb der Institutionen regulativer und koordinativer Standards stattgefunden und ob er gegebenenfalls zu einer Konvergenz oder Divergenz der Standards geführt hat. Sie tut dies vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über Folgen der Globalisierung und Bestrebungen in der Europäischen Union (EU) um Harmonisierung dieser Standards, auf die sie auch gelegentlich Bezug nimmt. Der Verfasser versteht seine Arbeit ausdrücklich (9) als Dialog zwischen Gegenwart und Geschichte.

Aus den benutzten Theorien leitet Ambrosius "Modelle" mit testbaren Hypothesen ab. Das "Grundmodell" der regulativen Standards geht von einem "politischen Markt" für Regulierung aus, auf dem politische Akteure (Minister, Beamte, Abgeordnete, etc.) Anbieter darstellen und "Bürger" - als Unternehmer, Arbeitnehmer oder Konsumenten - die Nachfrageseite bilden. Diesen werden (in Anlehnung an A. O. Hirschman) vier Verhaltensoptionen unterstellt: "Abwanderung", "Widerspruch", "Zustimmung" und "Verweigerung", die der unterschiedlichen Verteilung von Nutzen und Kosten von neuen Standards entsprechen. Organisationsfähigkeit der Akteure spielt im Modell eine wichtige Rolle. Gemäß Mancur Olsons Theorie des kollektiven Handelns lassen sich kleine Gruppen (wie z. B. die Unternehmer einer Industrie) aufgrund geringerer Transaktionskosten leichter organisieren als wesentlich größere Gruppen (z. B. die Konsumenten). Als Grundvoraussetzung der Anwendbarkeit des Modells werden ferner ein relativ unbehinderter internationaler Güterverkehr, Freizügigkeit von Produktionsfaktoren und Geltung des Prinzips gegenseitiger Anerkennung von Standards angesehen. Damit werden schließlich die zwischenstaatlichen Beziehungen und insbesondere Verhandlungen über Standards angesprochen, die dem Buch seine Aktualität verleihen.

Das "Grundmodell" der koordinativen Standards unterscheidet sich insofern von dem vorhergehenden als regulative Standards zur Beseitigung negativer externer Effekte eingeführt werden, während koordinative Standards positive Externalitäten bei Netzwerkgütern erzeugen bzw. realisieren lassen sollen (135). Das heißt, je mehr Wirtschaftssubjekte ein Netzwerkgut (wie eine Geldsorte, eine Börse oder ein Postsystem) nachfragen, desto niedriger werden die Kosten deren Benutzung. Weil sie Kosten für Unternehmen und Konsumenten reduzieren, werden Standards prinzipiell von beiden Gruppen unterstützt und müssen nicht vom Staat auferlegt werden. Allerdings kann es auch hierbei zu Verteilungsproblemen kommen, da Unternehmer aus Kostengründen natürlich an Beibehaltung ihrer Standards interessiert sind und deshalb nimmt auch hier der Staat eine wichtige Rolle ein.

Die "testbaren Hypothesen" dienen als Scharnier zwischen gegenwärtig angewandten Theorien und Geschichte. Zum Beispiel lautet die "Mobilitätsthese" wie folgt: Unternehmer und Anleger, die über Produktions- und Finanzkapital verfügen, können mehr Einfluss auf die Regulierungspolitik nehmen als Arbeitnehmer, die über den weniger mobilen Produktionsfaktor "Arbeit" verfügen; denn jene Akteure können "abwandern". Oder die "Verteilungsthese": Wenn sich die Kosten von Regulierungsmaßnahmen auf spezifische Gruppen konzentrieren, der Nutzen dagegen breit gestreut ist, ist ein Scheitern solcher Maßnahmen zu erwarten. Und die "Vorreiterunternehmensthese": "wenn es standardsetzende Vorreiterunternehmen gibt, die über eine gewisse Marktmacht verfügen, sodass die später in den Markt eintretenden Unternehmen die bereits vorhandenen Standards übernehmen, wird die Nachfrage nach öffentlicher Intervention schwach sein." (138)

Im Hauptteil der Arbeit geht der Verfasser auf Fallbeispiele ein, die zugleich als "Testfälle" für die 19 Hypothesen dienen. Zur Regulierung handelt es sich um ausgewählte Fälle aus den Bereichen Lebensmittelschutz, Arbeitsschutz und Patentrecht. Bei der Lebensmittelbranche z. B. lässt sich für die deutschen Staaten eine Regulierungs-Konvergenz feststellen, die der Hypothese entspricht, Regulierung hänge negativ von der Größe der Gruppe der Nutzenempfänger und kooperierenden Akteure (kleine Anzahl von Unternehmen) und positiv von der Größe der Gruppe der Kostenträger (alle Konsumenten) ab. Für den Bereich des Arbeitsschutzes zeigt Ambrosius auch ein Ergebnis der Konvergenz auf, sowohl unter den deutschen Staaten als auch unter den meisten europäischen Ländern, das er allerdings nicht auf ökonomische Gründe, sondern vorwiegend auf Durchsetzung gemeinsamer Wertvorstellungen in den kooperierenden Staaten zurückführt. Dabei kann von einer Angleichung "nach oben" gesprochen werden, der gegenwärtig als Globalisierungsresultat gefürchtete "Wettlauf nach unten" ("race to the bottom") hat nicht stattgefunden. Die Fallbeispiele zum Thema koordinativer Standards sind Maße und Gewichte, Post, Telegrafie und Eisenbahnen. Hier werden die Hypothesen des positiven Einflusses der Marktintegration und Mobilität der Produktionsfaktoren sowie der Größe der zunächst standardsetzenden Volkswirtschaft auf die Konvergenz der Standards bestätigt.

Mit seinem stringent theoretisch orientierten Werk wirft Ambrosius neues Licht auf die hier ausgewählten Kapitel der Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Globalisierung bis 1914 hatte offensichtlich eine andere Qualität als die heutige Variante. Verdienstvoll ist sein Versuch, Regulierungen ökonomisch zu begründen und nicht allein als "exogene", aus sozialpolitischen Gründen erfolgende Maßnahmen des Staates zu interpretieren. Auch die Organisation des stark durchgegliederten Buches hat Vorteile, denn sie belohnt Leser, die zielgerichtet bestimmte Beispiele bzw. Hypothesen näher prüfen möchten. Als Nachteil habe ich allerdings empfunden, dass die Vielzahl von Hypothesen schließlich nebeneinander stehen gelassen werden, ohne Gewichtung. Das mag damit zusammenhängen, dass kein Versuch unternommen wird, die Ursachen und Folgen der eingeführten Standards zu quantifizieren, weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene. Deshalb ist es auch schwer, mit den vorgelegten Ergebnissen Fragen wie der Frage nach "verpassten Chancen" der Vergangenheit - ein wichtiges Anliegen der Historiker - nachzugehen. Darüber hinaus birgt der Verzicht auf Quantifizierung die Gefahr, dass man nicht genau weiß, welche potentielle Erklärungshypothese ausgeschlossen werden soll, denn man steht mit den Ergebnissen vor einer großen Zahl von Möglichkeiten. Schließlich muss angemerkt werden, dass der oben angeführte Dialog zwischen Gegenwart und Geschichte eher auf methodischer als inhaltlicher Ebene stattfindet, da die zu Anfang aufgeworfene Analogie zwischen der heutigen EU und Globalisierung einerseits und dem Thema des Buches andererseits kaum weiter verfolgt wird, obwohl es Anhaltspunkte dafür liefert. Gleichwohl mindert das nicht den Wert des Buches für Wirtschaftshistoriker, denen es zweifellos empfohlen werden kann.

Richard Tilly