Benjamin Scheller: Memoria an der Zeitenwende. Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und während der Reformation (ca. 1505-1555) (= Stiftungsgeschichten; Bd. 3), Berlin: Akademie Verlag 2004, 350 S., ISBN 978-3-05-004095-0, EUR 74,80
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Der zunächst bloß als terminus technicus frühmittelalterlicher Memorialüberlieferung in den 1960er Jahren in die historische Forschung eingeflossene Begriff "Memoria" ist seit geraumer Zeit unter zunehmender inhaltlicher Diffusion zu einem der beliebtesten Schlagworte der Geschichts- und historisch orientierten Kulturwissenschaften geworden. Analog zu Vorgängen rund um andere paradigmatische Leitbegriffe ist zu befürchten, dass seiner Sinnentleerung mit der Transformation des Worts in den vermeintlich subtileren Plural begegnet werden wird: Unter "Memoriae" würden wir uns dann noch mehr und noch weniger vorzustellen haben. Grundsätzlich bekennt sich aber auch der Rezensent nach wie vor zur "Memoria" als Leitmotiv einschlägiger Untersuchungen. Gegenüber allgemeinen Aspekten des Themas ist aber die Beschäftigung mit der konkreten Wirksamkeit von liturgischer und sozialer Memoria bzw. spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Stiftungspraxis in regional und zeitlich abgrenzbaren Räumen ins Hintertreffen geraten.
Diesem Defizit begegnet Benjamin Scheller in einer unter der Betreuung Michael Borgoltes erarbeiteten, im Wintersemester 2001/02 an der Berliner Humboldt-Universität approbierten und 2004 im Druck erschienenen Dissertation. Nach einem Einleitungskapitel, das den Forschungsstand und die methodischen und interpretativen Zugänge zur Memoria allgemein und zum engeren Thema im Besonderen darlegt, verfolgt der Autor die Geschichte der drei großen Augsburger Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen (die Grabkapelle in der Karmeliterkirche St. Anna, eine Prädikatur an der Kollegiat- und Pfarrkirche St. Moritz und die so genannte "Fuggerei") in drei jeweils konsequent nach gleichem Schema aufgebauten Teilen, die den Zeitabschnitten vor Implementierung der Reformation in Augsburg (bis 1521), der konfessionellen Umbruchszeit (bis 1547/48) und schließlich der Phase der Bikonfessionalität bzw. katholischen Restauration (bis 1555) entsprechen. Innerhalb der drei großen Kapitel schildert Scheller jeweils nach einer allgemeinen Darstellung der äußeren Rahmenbedingungen für die Stiftungen Fuggers und der familieninternen Leitlinien - vom rasanten sozialen Aufstieg bis hin zur Fuggerschen "Sonderstruktur" (41) bzw. zum "Sonderstatus" (157, 169 und öfter) innerhalb der Stadt späterer Jahre - die Entwicklung der genannten Stiftungen und schließt jedes Kapitel mit einer Zusammenfassung. Nach einer kurzen "Schlussbetrachtung" folgen Transkriptionen von unpublizierten Quellen, das Literaturverzeichnis und ein quantitativ überschaubares Personen- und Ortsregister.
Unter Bezug auf die einschlägigen Quellen zur Fuggerschen Stiftungstätigkeit versteht es Scheller, die aus der Literatur bekannten Tatsachen in mehrfacher Hinsicht neu zu interpretieren. Schlüssig ist die dabei angewandte Methode, von einer jeweils konkreten und aktuellen Bedingtheit der Stiftungsmotive auszugehen und diesen den Stiftungsvollzug unter dem Einfluss späterer äußerer Gegebenheiten gegenüberzustellen. Die Brücke von dauerhaft gedachten Verfügungen über Stiftungen zu deren zeit- und situationsbedingter Kurzfristigkeit zu schlagen, der intendierten Langzeitlichkeit der Stiftermemoria die Wechselfälle der Stiftungsrealität konsequent gegenüberzustellen, ist Schellers bedeutendste innovative Leistung.
Schon eingangs (26) schneidet Scheller die Frage an, ob die Rahmenbedingungen vorreformatorischer Stiftungen, besonders Stiftungszweck und Stiftungsorganisation, Einfluss auf den späteren Fortbestand während der Reformation hatten. Nahe liegender Weise war dies der Fall, und es überrascht daher wenig, dass von den drei Stiftungen Jakob Fuggers alleine die Fuggerei als bedeutender und dabei in der Praxis bis über die Jahrhundertmitte hinaus überkonfessioneller Faktor städtischer Armenfürsorge ungebrochene Kontinuität im Stiftungsvollzug aufweisen konnte, zumal sie ihren Hausarmen kein öffentliches und mit der Reformation obsoletes Gebetsgedenken für die Stifter vorschrieb. Dass die beiden übrigen Stiftungen dagegen mit der Reformation bedeutende Brüche erfuhren, ist ebenso verständlich.
Von besonderem Interesse für Fragen nach Repräsentation und Memoria ist die Fuggersche Grabkapelle bei St. Anna, zu der aus neuerer Zeit neben einer Monographie Bruno Busharts ein Aufsatz Otto Gerhard Oexles vorliegt. Scheller folgt in der kunsthistorischen Beurteilung des Gesamtprogramms und der einzelnen Denkmäler weitgehend der Einschätzung Busharts, bringt jedoch neue Überlegungen zur Spätdatierung der "Außenepitaphien" ein und interpretiert die Kapelle insgesamt funktional anders als Oexle. Während dieser die Einrichtung der nur männlichen Angehörigen der Familie als Beisetzungsort offen stehenden Kapelle in Zusammenhang mit dem beabsichtigten Aufstieg der Fugger in den Adel verstand, legt Scheller überzeugend dar, dass es Jakob Fugger nicht um Integration in den (zunächst reichsritterlichen) Adel zu tun war, sondern um die bewusste Erlangung eines "Zwischenstatus zwischen städtischem Großkaufmann und Adeligem", wobei er sich freilich auch "herrschaftlicher" Repräsentationsformen bediente (81). Schließlich gilt Scheller die Kapelle durchaus nachvollziehbar als Ort der "Memoria [...] jener Männer der Familie Fugger [...], die als personales Substrat der Handelsgesellschaft von der sonstigen Verwandtschaft geschieden waren" (87).
Methodisch interessant ist Schellers Untersuchung der mit Konflikten zwischen dem Kapitel und der Pfarrzeche einerseits bzw. dem Kapitel und den Fuggern andererseits verbundenen Einrichtung der Prädikatur bei St. Moritz unter dem Gesichtspunkt eines Konflikts zwischen "Herrschaft" und "Genossenschaft" (104-114). In den häufigen Streitigkeiten um Patronatsrechte zwischen deren Inhabern und den zuständigen kirchlichen Instanzen äußern sich in der Regel jedoch weniger grundlegende strukturelle Spannungen als jeweils aktuelle und nicht zuletzt finanzielle Interessen. Dagegen gelingt es Scheller, die hinter den Stiftbriefen und wechselseitigen Verträgen stehenden widerstrebenden Interessen beider Seiten aus ergänzenden Quellen zu rekonstruieren (118 f.).
Auf dem Weg zu seinen insgesamt nachvollziehbar argumentierten wie unprätentiös formulierten und inhaltlich wie methodisch anregenden Erkenntnissen demonstriert Scheller manches, was nicht mehr ohne weiteres zum selbstverständlichen Handwerkszeug des Historikers zählt, etwa (mit wenigen Ausnahmen) Vertrautheit mit hilfswissenschaftlicher (konkret: diplomatischer) Methodik und Begrifflichkeit. Erfreulich gut redigiert und weitgehend frei von Druckfehlern präsentiert sich der insgesamt gründlich gearbeitete Band. Einzelne kleinere Errata bestehen freilich auch: Inkonsequent gehandhabt sind mitunter das Genus mancher Substantive und einzelne Schreibweisen. Dem Patronat (hier m.) steht durchwegs das Kanonikat (n.) gegenüber, mehrmals tauchen "Photografien" auf (147 und 149).
Trotz an sich guter Lateinkenntnisse sind dem Autor minder gravierende Lapsus unterlaufen: die drei D, die als Prädikat die Bauinschrift der Fuggerei von 1519 schließen, sind wohl kaum als "geschenkt, gestiftet und geweiht" zu interpretieren, wie Scheller offenbar nach fehlerhaften älteren Übersetzungen annimmt (156), sondern stehen entsprechend der Dreizahl der stiftenden Brüder Ulrich, Georg und Jakob lediglich für das eine Verb "donaverunt" oder "dedicaverunt". In der Epitaphinschrift auf Jakob Fugger (194, Anm. 52) muss es richtig "A CONSILIO" statt "A(VGVSTORVM) CONSILIO" heißen sowie "INVSITATAR(VM)" statt "INVSITAR(VM)".
Einige wenige Feststellungen sind korrekturbedürftig. Zumindest verwirrend ist es, wenn der von den Augsburger Karmelitern 1509 ausgestellte Revers über die Fuggersche Kapellenstiftung mehrfach (etwa 48 f.) als "Stiftungsurkunde" bezeichnet wird. Wenn eine "Stiftungsurkunde [...] von der Empfängerseite ausgefertigt" wird (58), dann handelt es sich eben wohl um einen Revers über die Stiftung. Ob der als "Konzept" bezeichnete, undatierte und unpublizierte Stiftbrief Fuggers von 1506 dagegen tatsächlich nur ein Konzept oder doch eine (vielleicht unvollzogene oder nicht ausgehändigte) Ausfertigung war, kann der Leser aus Schellers Ausführungen (50) bzw. der Transkription (286-289), bei der Angaben über Besiegelung, Dorsualvermerke, alte Archivsignaturen usw. fehlen, nicht entnehmen. Das Prädikat "wohlgeboren", das Sybilla Fugger 1543 als erster Fuggerin beigegeben wurde, ist nicht als Reflex der gelungenen Integration der Fugger in den Hochadel zu verstehen, wie Scheller implizit nahe legt (183), sondern kam ihr primär als Ehefrau des dem österreichischen Herrenstand angehörigen Wilhelm Freiherrn von Puchheim, den Scheller nicht nennt, zu.
All diese kleinen Defizite sind jedoch keineswegs dazu angetan, den durchwegs positiven Eindruck, den die Lektüre des Buchs hinterlässt, zu beschädigen. Weitere mikrohistorische Fallstudien wie jene Schellers wären gut geeignet, neue Beiträge zur Gesamtsicht der Reformation und ihrer Auswirkungen auf den Fortbestand vorreformatorischer Stiftungen zu liefern. Das Themenfeld "Memoria" dürfte sowieso noch lange nicht erschöpft sein.
Andreas Zajic