Kyra T. Inachin: Nationalstaat und regionale Selbstbehauptung. Die preußische Provinz Pommern 1815-1945 (= Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburgs und Vorpommerns; Bd. 7), Bremen: Edition Temmen 2005, 400 S., ISBN 978-3-86108-052-7, EUR 29,90
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Die dieser Greifswalder Habilitationsschrift zugrunde liegende Fragestellung ist lohnenswert, denn sie verspricht neue Erkenntnisse zur pommerschen und vergleichenden Landesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Ausgehend von den Überlegungen Benedict Andersons zur Erfindung der Nation versucht Kyra T. Inachin diesen diskursiven Ansatz der Nationalismusforschung auf die darunter liegende administrativ-politische Ebene einer preußischen Provinz zu übertragen. Das gewählte Untersuchungsobjekt ist die zwischen 1815 bis 1818 neu geschaffene Provinz Pommern. Inachins Hauptfrage ist, ob und inwieweit die heute häufig als ungebrochen bis ins Mittelalter zu reichen scheinende "Pommernidentität" ein Konstrukt aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert ist. Unter der Annahme, dass die preußische Provinz Pommern eine Mischform von staatlich geformter Einheit und imaginiertem Pendant zu einer tatsächlichen Ordnung (17) darstelle, fragt die Verfasserin darüber hinaus auch nach den Trägern der verschiedenen regionalen Identitäten und deren Anteil am Identitätsdiskurs einschließlich deren Foren und Medien.
Nach solchen grundsätzlichen Überlegungen geht Inachin dann zu Fragen des pommerschen Identitätsdiskurses und zum Verhältnis von Identitätsdiskurs und Öffentlichkeit seit dem 19. Jahrhundert über. Es erschließt sich jedoch nicht vollständig, warum diese beiden Abschnitte noch zur Einleitung bzw. zu deren Unterpunkt "Fragestellung, Quellen und Forschungsstand" gehören. Denn hier werden schon auf mehreren Seiten Fakten und Interpretationen geboten, die eigentlich in den Untersuchungsteil gehören. Zudem schließt sich erst daran der zweite nummerierte Unterpunkt der Einleitung mit dem Titel "Vorgehensweise" (40 f.) an.
Eine gewissermaßen strukturelle Inkonsequenz im Aufbau der Arbeit zieht sich durch das ganze Buch. Dadurch hat man mitunter den Eindruck, bestimmte Sachverhalte schon einmal gelesen zu haben bzw. nicht recht "vom Fleck" zu kommen. In gewisser Weise überlagert sich die chronologische Abfolge mit anderen Ordnungsmodellen bei der Gliederung der Untersuchung. Diese besteht aus vier Hauptabschnitten mit den Titeln "Herrschaftslegitimation und Partizipationsangebot: Die preußische Provinz Pommern", "Die Instrumentalisierung des pommerschen Identitätsdiskurses - Die Ausbildung einer politischen Identität", "Pommerscher Identitätsdiskurs - Das Verhältnis zwischen Pommernbewußtsein, preußischem Bezugssystem und deutscher Identität" und "Konkurrenz der Bezugssysteme - Konstruktion und Dekonstruktion pommerscher Identität".
Im ersten der genannten Abschnitte geht es um die Bildung der preußischen Provinz als Verwaltungskörper und die nachfolgende Konzeption eines Pommernbewusstseins. Hierbei hebt die Autorin insbesondere auf die Sonderstellung des erst 1815 an Preußen gekommenen Schwedisch-Vorpommern ab, wo sich seit dem Westfälischen Frieden eigene regionale Traditionen herausgebildet hatten. Preußens mit der Erwerbung verbundenes Ziel war v. a. militärischer und verwaltungstechnischer Natur. Die geltende Rechtsordnung musste Preußen im Übergabevertrag mit Schweden 1815 anerkennen. Deshalb behielt dieses Gebiet auch weiterhin eine Sonderstellung innerhalb der Provinz. Die sich daraus auch für die Identitätsbildung ergebenden Konsequenzen werden breit diskutiert. Allerdings hätte man konsequenterweise auch andere Gebiete der Provinz in den Blick nehmen können, etwa die erst ab 1811 aufgelösten Domkapitel Cammin und Kolberg, die im Zuge der Provinzbildung 1815 zu Pommern gekommenen ehemals brandenburgischen Gebiete in Hinterpommern oder das erst 1720 an Preußen gefallene Vorpommern südlich der Peene, das im 18. Jahrhundert ebenfalls eine rechtliche Sonderstellung gegenüber dem bereits 1648 / 1653 brandenburgisch gewordenen Hinterpommern aufwies. Dies wird teilweise nur indirekt bei der Behandlung der Verwaltungsreformen auf Kreisebene berührt (66 f.).
Angesichts dieser Vielgestaltigkeit der Provinz mit unterschiedlichen historischen Traditionen bemühte man sich bereits frühzeitig um die Schaffung eines einheitlichen Pommernbewusstseins. Seitens der staatlichen Verwaltung war hierfür der Oberpräsident der Provinz maßgeblich verantwortlich. Pommerns zweiter Oberpräsident Johann August Sack, der ab 1816 amtierte, war in dieser Hinsicht ganz besonders aktiv. Die Zelebrierung von Feiern und Gedenktagen spielte dabei ebenso eine wichtige Rolle wie die Schaffung eines Geschichtsvereins und die Konzeption einer pommerschen Landesgeschichte als Vorgeschichte der preußischen Provinz. Diese Konzeption kollidierte allerdings gerade im ehemaligen Schwedisch-Vorpommern mit gegenläufigen Tendenzen. Mit der Universität Greifswald, deren Lehrkörper in der Zeit der schwedischen Herrschaft in Personalunion auch wichtige Funktionen der Landesverwaltung ausübte, die nun alle marginalisiert und eliminiert wurden, war dafür ein wichtiges geistiges Zentrum vorhanden.
Im zweiten Hauptabschnitt geht es um das Verhältnis von preußischer Struktur-, insbesondere Wirtschaftspolitik und den Erwartungen und Reaktionen vor Ort. Hier kommen Aspekte wie die agrarische Modernisierung einschließlich der Bildung von landwirtschaftlichen Interessenvertretungen, aber auch der staatliche Eisenbahnbau zur Sprache. Inachin kann herausarbeiten, dass das ehemalige Schwedisch-Vorpommern auch wirtschaftsgeographisch eine Sonderstellung einnahm. Daneben behandelt sie aber mit dem 1875 ins Leben gerufenen Provinzialverband als Nachfolger der Kommunalstände ein wichtiges politisches Gremium zur Artikulation eines auf die Provinz bezogenen Bewusstseins. Darauf aufbauend untersucht sie den Provinziallandtag und stellt den Konservatismus als tragende politische Strömung in der Provinz fest.
Im dritten Hauptabschnitt wird das Verhältnis von Pommern-, Preußen- und Nationalbewusstsein behandelt. Auch hier gehen wieder politische Konzepte mit wirtschaftlichen Entwicklungen Hand in Hand. Der letzte Hauptabschnitt schließlich behandelt in erster Linie die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als im Zuge von Raumneuordnungen - Stichwort Reichsreform - die bisherigen Verwaltungsstrukturen in ganz neuer Dimension in Frage gestellt wurden. Neben wirtschaftsgeographischen Erwägungen spielten hier auch politische Gegebenheiten eine Rolle, die aber durchaus ineinander griffen. Durch den Versailler Vertrag war Pommern zur Grenzprovinz geworden, und damit hatten die östlichen Teile der Provinz ihr wirtschaftliches Hinterland verloren.
Wie ein roter Faden durchzieht die Erkenntnis das Buch, dass wirtschaftliche Interessen und Erwägungen in ganz besonderem Maße für die Konstruktion von Räumen und nachfolgend von Identitäten zur Legitimation derselben bestimmend waren. Ob nun die schwedisch-vorpommerschen Getreidehändler, die die Vorteile ihrer schwedischen "Staatsangehörigkeit" beim Seehandel auch nach 1815 gewahrt wissen wollten, oder ob hinterpommersche Gutsbesitzer, die die Agrarmodernisierung nur zu ihrem Vorteil verfolgten: Immer waren es handfeste wirtschaftliche Interessen, die auch den begleitenden Identitätsdiskurs bestimmten. Dabei verursachte die rasante wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung im Zeitalter der Industrialisierung mitunter rasch wechselnde Argumentationen und eine nicht zu übersehende räumliche Ausweitung, die schließlich die 1815 geschaffene Provinz als Bezugsrahmen als Ganzes in Frage stellte.
Es ist das Verdienst der Studie von Inachin, erstmals dieses Thema der pommerschen Landesgeschichte so umfassend behandelt zu haben. Wie bei einer Pionierstudie wohl kaum anders zu erwarten, konnte sie nicht jede Frage erschöpfend beantworten bzw. gab Anstoß zu weitergehenden Fragestellungen. Ein wesentliches Manko ist die geringe Unterfütterung mit Ergebnissen empirischer Untersuchungen. Das ist aber weniger der Autorin anzulasten, denn es gibt solche schlichtweg nur in dem von ihr verwendeten Maß. Und die "Fundamentierung" auf ausgedehnten archivalischen Forschungen hätte den Rahmen dieser Arbeit sicher gesprengt.
Der Rezensent hätte sich, wie eingangs bereits angedeutet, etwas mehr Stringenz bei der Gliederung des Buches und darüber hinaus auch mehr Reflexion der Untersuchungen im Sinne von Zwischenzusammenfassungen bzw. einer abschließenden Gesamtzusammenfassung gewünscht. Die als "Schluss" bezeichneten zweieinhalb Seiten am Ende des Buches scheinen dafür nicht ausreichend zu sein. Auch nach mehrmaligem Lesen erschloss sich nicht immer vollständig, warum der eine oder andere Unterabschnitt der Untersuchung eingefügt wurde und welche Relevanz er für die Gesamtfragestellung hat.
Dirk Schleinert