Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte? Aus dem Englischen von Michael Bischoff, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2005, 203 S., ISBN 978-3-518-58442-2, EUR 19,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
John Sainsbury: John Wilkes. The Lives of a Libertine, Aldershot: Ashgate 2006
Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2008
Vito Francesco Gironda: Die Politik der Staatsbürgerschaft. Italien und Deutschland im Vergleich 1800-1914, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Peter Burkes von Michael Bischoff kongenial übersetzter Essay gibt Antworten auf unterschiedliche Fragen. Wer den Titel wörtlich nimmt, findet in dem Band ein breites Panorama von dem, was seit dem 18. und 19. Jahrhundert als "Kulturgeschichte" praktiziert wurde, welche Methoden sie anwandte und mit welchen Themen sie sich beschäftigte. Das Buch liefert aber zugleich Antworten auf die - vielleicht provozierendere - Frage, was Kulturgeschichte eigentlich solle, welche Probleme sie mit sich bringe und wie ihre Zukunft aussehen könne.
Burke nähert sich seinem Gegenstand in einer Mischung aus chronologischer und systematischer Analyse. Einem ersten Kapitel zur 'großen Tradition' bei Burckhardt, Huizinga, Weber und Elias folgt eine Diskussion der Schwierigkeiten des Zugangs zu historischen Entwicklungen über 'Kultur': die marxistische Kritik am Fokus auf den Überbau, das Problem der Konstruktion einer einheitlichen Kultur in der Historiografie, welche Unterschiede und Innovationen überdecken könne und deren Grenzen nie besonders scharf konturiert wurden, den Fokus der Klassiker auf die 'Hochkultur' und die Fragen, welche die Definition und Erforschung einer (oder mehrerer?) Populärkulturen aufwerfen, die doch eigentlich das Problem einer Konzentration auf die Eliten beenden sollte.
Im Rahmen dieser Problemstellung bewegen sich auch die folgenden Kapitel, die sehr dicht geschrieben sind und immer wieder aufeinander verweisen. Nach der Stunde der Differenzierung der Klassiker erscheinen Burke zunächst die Ausweitung des Kulturbegriffs in einem ethnologischen oder anthropologischen Sinne, der Aufstieg der historischen Anthropologie und der empirische Fokus auf Mikrogeschichte, Frauengeschichte und postkoloniale Geschichte als entscheidende Entwicklungen der 1950er- bis 1970er-Jahre. Das vierte Kapitel widmet sich der "Neuen Kulturgeschichte". Es beginnt mit der konzisen Vorstellung entscheidender methodischer und inhaltlicher Postulate von Michail Bachtin, Norbert Elias, Michel Foucault und Pierre Bourdieu, um dann ein breites Panorama historischer Praxis zu entwerfen, das Versuche, den "Orientalismus" in der Musik dingfest zu machen, ebenso einschließt wie die Körpergeschichte oder die Geschichte der materiellen Kultur und des kulturellen Konsums.
Das fünfte Kapitel beschreibt schließlich die jüngste Entwicklung der Kulturgeschichte von einer 'dicht' beschreibenden Geschichte kultureller Traditionen, Überlieferungen und Praktiken zur Analyse von Kultur als ständiger Performanz, welche Gemeinschaften, Herrscherbilder (Burke diskutiert in diesem Zusammenhang auch sein Buch "The Fabrication of Louis XIV") und individuelle Identitäten erst entstehen lässt.
Die Darstellung des Entwicklungsgangs und der Inhalte der Kulturgeschichte ist, wie von einem Meister des Faches nicht anders zu erwarten, breit gefächert, außerordentlich luzide, sehr lehrreich, kritisch und differenziert. Die empirischen Beispiele, mit deren Hilfe Burke Methoden, Probleme und Ergebnisse verschiedener Phasen der Kulturgeschichte anschaulich macht, stammen nach dem Ende der 'großen Tradition' überwiegend aus der englischen, amerikanischen, französischen und italienischen Historiografie, aber die von Burke zur Illustration seiner Aussagen gewählten Werke liegen fast alle auch in Übersetzung vor. "Was ist Kulturgeschichte" lässt sich somit auch ohne Bedenken als Lektüre für Einführungsseminare empfehlen. Das Einzige, was man vielleicht vermissen könnte, wäre ein Verweis auf die neuere kritische Diskussion der Entstehung der "Volksgeschichte" in den 1920er- und 1930er-Jahren, die bei der Entwicklung der Geschichte der Volkskulturforschung weitgehend ausgespart bleibt.
Burkes Begriff von Kultur und von Kulturgeschichte ist eklektisch und empirisch: er zählt alle Bereiche zum Thema, die sich selbst als Kulturgeschichte bezeichnen oder Gegenstände behandeln, die im Mittelpunkt von Kulturgeschichte standen: Geistes- und Ideengeschichte, New Historicism, "post-colonial studies" sowie Bereiche der Ethnologie und Sprachwissenschaft werden daher auch in die Betrachtung mit einbezogen. Den Siegeszug der Kulturgeschichte erklärt Burke mit wissenschaftsimmanenten Fragestellungen ebenso wie mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Als entscheidend für den Aufschwung der Kulturgeschichte nach dem zweiten Weltkrieg gilt ihm die Erfahrung unterschiedlicher Kulturen und die allgemeine Verunsicherung im Zuge der Dekolonisierung; das erklärt auch, warum die Kulturgeschichte in Deutschland erst relativ spät und in etwas anderer Form ihren Aufschwung erlebte.
Durch diese Breite der Perspektive wird eine spezifische kulturhistorische Methode oder Fragestellung allerdings schwer zu fassen; von der kulturell interessierten Sozialgeschichte eines E.P. Thompson über Benedict Andersons imaginierte Nationen, Peter Gays historische Psychoanalyse bis hin zu Christopher Clarks und Wolfram Kaisers Nachdenken über die Rolle der Religion für die Politik des 19. Jahrhunderts (der jüngste Eintrag im Literaturverzeichnis [1]) gehört alles dazu, und zumal mit der Kulturgeschichte weniger vertraute Leserinnen und Leser könnten daher ganz gelegentlich den roten Faden etwas aus den Augen verlieren.
Diese zunehmende Entgrenzung der Kulturgeschichte ist - folgt man Burke - einerseits ein Zeichen ihres Erfolges: auch wirtschaftliche, politische und religiöse Konflikte erscheinen, etwa bei Samuel Huntington, als Resultat inkompatibler kultureller Wertvorstellungen, eben als culture wars. Andererseits ist sie auch eines von mehreren Problemen, welche die im letzten Kapitel behandelte Frage, ob die kulturelle Wende wiederum vor ihrer Ablösung stehe, begründen. Burke sieht eine Reihe von möglichen Entwicklungspfaden und Risiken: eine Renaissance "klassischer" Kulturgeschichte, in deren Mittelpunkt die Hochkultur steht; die "Rache der Sozialgeschichte" (165), die auch darauf bauen könne, dass die Kulturgeschichte das Problem der Repräsentativität ihrer Quellen nur begrenzt gelöst hat. Denkbar sei aber auch ein neuer Aufschwung durch eine Konzentration auf die Geschichte von kulturellen Grenzen und deren Überschreitung in Zeit und Raum durch interkulturelle Begegnungen oder kulturelle Wenden. Immerhin werde, so Burke abschließend, die Erfahrung der Kulturgeschichte, völlig unabhängig davon, wie die Geschichtswissenschaft sich weiter entwickelt, eine Rückkehr zur "Buchstabengläubigkeit" eines historischen Positivismus verhindern.
Anmerkung:
[1] Christopher Clark / Wolfram Kaiser (Hg.): Culture Wars: Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003; s. hierzu die Rezension von Martin Baumeister, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/04/5364.html.
Andreas Fahrmeir