Hans-Peter Wittwer: Vom Leben der Kunst. Jacob Burckhardts Kategorien Existenzbild und Existenzmalerei und ihre historischen Voraussetzungen, Basel: Schwabe 2004, 391 S., 64 s/w Abb., ISBN 978-3-7965-2019-8, EUR 47,50
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Einen Autor wie Jacob Burckhardt, der aufgrund seines Misstrauens gegenüber den Kategorien einer idealistischen Kunstgeschichtsschreibung von heutigen Wissenschaftlern problemlos in die Nähe der postmodernen Diskurstheorie gebracht werden kann [1], anhand eines einzelnen Begriffes greifen zu wollen, erscheint als ein gewagtes Unterfangen. Dessen ist sich auch Hans-Peter Wittwer bewusst, wenn er zu Beginn seiner Dissertation über Burckhardts Kategorien "Existenzbild" und "Existenzmalerei" schreibt, dass der Verfasser des 'Cicerone' "von Anfang an jeder systematischen Kunsttheorie aus dem Weg gegangen" sei (14). Dennoch (oder gerade deshalb) sieht Wittwer im Begriff des 'Lebens' einen zentralen Gesichtspunkt von Burckhardts Kunstbetrachtung, der den Stoff für eine breit angelegte Quellenanalyse bereithält. 'Dennoch', weil der - besonders in seinen Ableitungen 'lebendig' und 'lebensvoll' - inhaltlich stark changierende Begriff von Burckhardt eben nicht systematisch eingesetzt wurde. Und 'gerade deshalb', weil Burckhardt laut Wittwer "zur Darstellung seiner kunsthistorischen Auffassung bewusst eine allgemein verbreitete und allgemein verständliche Sprache gewählt" hat und gerade über den Begriff 'Leben' "die Kunst aufs engste mit dem Menschen in Verbindung [bleibt], der als Betrachter und Betrachteter in gleicher Weise einbezogen wird" (14).
Der Facettenreichtum des Begriffskomplexes 'Existenzbild', 'Existenzmalerei', 'Leben', 'lebendig', 'lebensvoll', 'Mitleben' und 'Mitlebenmachen' sowie die Schwierigkeit diese Begriffe als Kategorien in Burckhardts Werk zu greifen, geschweige denn in einer systematischen Idee zusammenzufassen, macht sich schon in der Gliederung von Wittwers Untersuchung bemerkbar. In einer Fülle von kurzen und kürzesten Unterkapiteln bricht der Autor sein Thema auf mikroskopische Quellenanalysen herunter, die zwar im Einzelnen aufschlussreiche Erkenntnisse enthalten, sich dem Leser aber nur schwerlich zu einem Gesamtbild verdichten.
Im ersten einführenden Überkapitel (17-30) nähert sich Wittwer anhand von Zitaten Burckhardts dem aus seiner Sicht so zentralen Begriff der 'Existenz', wenn er z. B. aus dem 'Cicerone' zitiert: "Der göttliche Zug Tizians besteht darin, dass er den Dingen und Menschen diejenige Harmonie des Daseins anfühlt, welche in ihnen nach Anlage ihres Wesens sein sollte oder noch getrübt und unkenntlich in ihnen lebt; was in der Wirklichkeit zerfallen, zerstreut, bedingt ist, das stellt er als ganz, glückselig und frei dar. Die Kunst hat diese Aufgabe wohl durchgängig [...]" (19). Er verdeutlicht damit, dass die 'Existenzmalerei' ein Kunstideal Burckhardts verkörpert, welches die Darstellung überzeugender Charakterbilder ohne überfrachtende erzählerische Momente - "wie in einer Pause ihres Daseins" (18) - erlaubt. Der Begriff des 'Lebens' wird darüber hinaus nicht nur auf den dargestellten Inhalt, sondern auf die Idee der Kunst als Sprache hin interpretiert: "Die Kunst [...] bildet nicht nur Leben ab, sondern hat selbst ein Leben und damit auch eine eigene Geschichte." (26).
Entsprechend ist das nächste Überkapitel (31-70) mit "Sprache und Kunstgeschichte" überschrieben. Anhand des Vergleichs und der Abgrenzung zu Vasari verdeutlicht Wittwer hier u. a., dass Burckhardt die - auch in Worten darstellbare - 'Idee' als Antriebsfeder des Kunstschaffens zurückwies und an ihre Stelle das eigenständig Schöpferische setzte, das in seinem Werden in enger Beziehung zum Begriff des 'Lebens' steht. Die Impulse, die Burckhardts von einer Künstlergeschichte losgelöste und an den Werken orientierte Kunstbetrachtung durch Winckelmann erfuhr, ist ein weiterer Aspekt dieses Untersuchungsabschnitts. Hier wird die Formung von Burckhardts eigenständiger und neuartiger Textschöpfung - insbesondere seiner Entscheidung den 'Cicerone' nicht als Geschichtswerk, sondern als Reisebericht anzulegen - verdeutlicht.
Im folgenden Abschnitt (71-134), der den Titel "Kunst und Leben. Eine Analyse" trägt, untersucht der Autor anhand umfangreicher Quellen den Begriff des 'Lebens' in Burckhardts kunsthistorischen Schriften. Hier geht es ihm zunächst vor allem um den Gegensatz von 'leblos' oder 'kalt' - einem Vorwurf, den Burckhardt z. B. der aus seiner Sicht nur mehr reproduzierenden Kunst der Spätantike macht - und jenen 'lebendigen' Werken der Renaissance, "zu denen der Betrachter in eine Beziehung treten kann" (91). Er resümiert, "dass der Ausdruck 'Leben' Burckhardt eine Möglichkeit an die Hand gibt, um in unaufdringlicher Weise darauf hinzuweisen, dass 'Form' und 'Inhalt' oder, wie er es formuliert, das 'Was' und das 'Wie' eines Kunstwerks unzertrennbar zusammengehören" (97). Dabei wird der Begriff des 'Lebens' von Burckhardt nicht nur in Bezug auf die abbildende Kunst bezogen, sondern auch bezüglich der Entasis griechischer Tempelsäulen spricht er von "innerem Leben", das durch die leichte Schwellung durchscheine (118). Doch die Verbindung von kunsttheoretischen Begriffen wie "Leben der Kunst" und "Kunstleben" (108) mit Burckhardts stilkritischen Bewertungen, in denen er z. B. bei Guido da Siena die "lebendige Zeichnung" lobt oder eine Reiterstatuette Alexanders des Großen als "lebendig gedacht" bezeichnet (99), bleibt für den Leser schwer nachvollziehbar. Schlüssig ist hingegen der anschließende Hinweis auf die Bedeutung des bildnerischen Prozesses innerhalb der Kategorie 'Existenzbild': Laut Burckhardt können nämlich nur solche Werke als "glücklich" bezeichnet werden, in denen "die Dinge zwar wohl mit Fleiss und Anstrengung, aber ohne Mühsal vollendet" wurden (131).
Auf dieser Basis werden im anschließenden Großkapitel "Kunst und Leben. Versuch einer Synthese" (135-170) Merkmale des Burckhardt'schen Wertesystems, in dem das Existenzbild einem Ideal entspricht, im Einzelnen untersucht und in Verbindung zueinander gebracht. Zu diesen Merkmalen gehören z. B. die "dem Bildaufbau zugrunde gelegte Symmetrie, die nach Burckhardts Vorstellungen nicht absichtlich erscheinen soll" (138), sowie ein Abweichen von der Naturnachahmung, wenn es zu einem über die Natur hinausgehenden "Leben" verhilft (147). Diese Merkmale können laut Burckhardt zu einem 'Mitleben' des Betrachters führen, dessen Zugang nicht nur im Existenzbild der italienischen Renaissance, sondern auch in der niederländischen Genremalerei geöffnet wird.
Wer nun erwartet hat, nach diesem ausführlichen Ausloten der Grundlagen schließe sich eine Beschäftigung mit den Kunstwerken an, die Burckhardt als 'Existenzbilder' bezeichnet hat, wird zunächst enttäuscht, denn nun folgt eine Untersuchung des Begriffs der Existenz in den Schriften Burckhardts (171-188). Dabei werden nicht nur die kunsthistorischen, sondern auch private Dokumente wie Briefe herangezogen, in denen seine Einstellung zum Leben analysiert wird - ein neuerliches, ziemlich weites Ausholen, das nicht zur Klärung, sondern eher zur Verwirrung beiträgt. Einzig der Hinweis, dass Burckhardts Lebensentwurf - im Gegensatz zu demjenigen Nietzsches - der 'vita contemplativa' entsprach, birgt wieder eine Nähe zur Ruhe des 'Existenzbildes'.
Diesem Kapitel schließt sich ein Rundblick auf den Begriff des 'Existenzbildes' in zeitgenössischen literarischen Quellen an (189-222). Goethe, Franz Kugler und Wilhelm Heinse werden herangezogen, während insbesondere Letzterer Burckhardts Idee antizipiert zu haben scheint, wenn er im 'Ardinghello' einen antiken griechischen Künstler sagen lässt: "Der schöne Mensch im blossen Gefühl seiner Existenz ohne Leidenschaft in Ruhe ist der eigentlichste Gegenstand der Nachahmung des bildenden Künstlers" (200). Auch Winckelmann hat bei seiner Bewertung der Antiken Kunst den Aspekt der 'Ruhe' als Ideal herausgestellt.
Im Anschluss nähert sich der Autor im Kapitel "Darstellung und Existenz" (223-270) nun aber endlich den eigentlichen Kunstwerken, auf die Burckhardt seine Idee des Existenzbildes bezog. Es zeigt sich, "dass die eigentliche Heimat der 'Existenzmalerei' in Venedig und - obwohl begrifflich nicht mit derselben Deutlichkeit - in den Niederlanden zu suchen ist" (233), während in Florenz stärker die Historienmalerei überwiegt. Die Darstellung "ruhigen Daseins" verbindet nach Burckhardt die griechische Götterstatue, das venezianische Altarbild und die niederländische Genredarstellung. Hier kann sich die Kunst von ihren Fesseln des "Darstellenmüssens" befreien und - so interpretiert Wittwer jedenfalls die Worte Burckhardts - "zu neuem Leben erwachen" (249).
Das nach Seitenzahlen relativ schmale Kapitel, das sich abschließend endlich mit den Kunstwerken Bellinis, Giorgiones und Tizians befasst (273-350) wirkt wie ein Anhängsel. Und dies ist bezeichnend für jene Untersuchung, die zwar einen umfangreichen Quellenschatz akribisch ausgewertet hat, aber den Bezug zu jenen Werken der Kunst, die für Burckhardt im Mittelpunkt des Interesses standen, an vielen Stellen vermissen lässt. Auch die im Buch verteilten Fotografien von Kunstwerken aus der riesigen Sammlung Jacob Burckhardts wirken wie Beiwerk und bleiben weitgehend unkommentiert.
Anmerkung:
[1] Vgl. u.a. Andrea Schütte: Stilräume. Jacob Burckhardt und die ästhetische Anordnung im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2004; s. hierzu die Rezension von Iris Benner, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/05/6656.html
Iris Benner