Rezension über:

Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hgg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie (= Geschlecht & Gesellschaft; Bd. 35), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, 736 S., ISBN 978-3-531-14278-4, EUR 34,90
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Rezension von:
Andrea Löther
CEWS Center of Excellence Women and Science / Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung, Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Löther: Rezension von: Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hgg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/9262.html


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Ruth Becker / Beate Kortendiek (Hgg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung

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In den letzten Jahren sind auffällig viele Handbücher zur Frauen- und Geschlechterforschung auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erschienen - wie Ulla Bock kürzlich vermerkte. [1] Dies verweist, so Ulla Bock, nicht nur auf die Tatsache, dass die "Frauen- und Geschlechterforschung inzwischen auf einen hoch ausdifferenzierten Wissensbestand" zurückblicken könne. Auch die "Prozesse der Autonomisierung und Institutionalisierung" machten es erforderlich, "Verbindungslinien zwischen den disparaten fachspezifischen Kulturen, theoretischen Ansätzen, empirischen Studien und politischen Praxen deutlich zu machen".

Das vorliegende Handbuch ist dabei die umfassendste Publikation. Anlass war den Herausgeberinnen das Fehlen eines Überblicks zur Frauen- und Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum bei gleichzeitiger reger Publikationstätigkeit in diesem wissenschaftlichen Feld. Vor diesem Hintergrund soll das vorliegende Handbuch "einen Überblick über die theoretischen Ansätze, die methodischen Verfahren und die empirischen Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung" geben (Vorwort).

Das Handbuch entstand im Kontext des "Netzwerks Frauenforschung NRW" und kann auf die Kontakte der "Marie Jahoda Gastprofessur für Internationale Frauenforschung" zurückgreifen. Es enthält 90 Beiträge von insgesamt 95 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich, Schweden, den Niederlanden, Australien und den USA.

Die Publikation gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Teil "Zentrale Fragestellungen und Theoriekonzepte" behandelt in einem ersten Unterkapitel Schlüsselkonzepte der Theoriebildung, von Patriarchat (Eva Cyba), Feminismus (Barbara Thiessen), Weibliche Moral (Gertrud Nunner-Winkler), Lesbenforschung und Queer Theorie (Sabine Hark) bis zu Konstruktion von Geschlecht (Angelika Wetterer), Doing Gender (Regine Gildemeister) und (De-)Konstruktionen in Auseinandersetzung mit den Positionen und der Rezeption Judith Butlers (Paula-Irene Villa). Dabei werden nicht nur deutsche und angloamerikanische Ansätze behandelt, sondern es gibt auch Beiträge zum französischen (Ingrid Galster) und italienischen Feminismus (Heike Kahlert). Dieser Abschnitt beinhaltet auch einige ältere Konzepte - was von einigen Rezensentinnen kritisiert wird. Gerade dadurch erhalten jedoch auch jüngere Leserinnen und Leser einen Überblick über die Theorieentwicklung innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung.

Im zweiten Unterkapitel wird die Auseinandersetzung der Frauen- und Geschlechterforschung mit Bezugstheorien und Konzepten vor allem der Gesellschaftswissenschaften beleuchtet. Auch hier werden wiederum Entwicklungslinien sichtbar, wenn mit Beiträgen zu Sozialisationstheorien (Renate Nestvogel) und Geschlechterstereotypen (Thomas Eckes) frühe Ansätze dargestellt werden. Die Nutzung und Weiterentwicklung von sozialwissenschaftlichen Theorien für die Geschlechterforschung wird beispielhaft in den Beiträgen zu Habitus und sozialem Raum (Stefanie Engler) oder Systemtheorie (Ursula Pasero) aufgezeigt. Beiträge zu Postkolonialismus (Encarnación Gutiérrez Rodrígez) und Rassismustheorien (Nora Räthzel) behandeln Kontroversen innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung. Der interdisziplinäre Ansatz wird beispielhaft in dem Artikel zu Öffentlichkeit und Privatheit sichtbar: Die Autorin dieses für die historische Frauen- und Geschlechterforschung zentralen Begriffspaares, Elisabeth Klaus, ist Kommunikationswissenschaftlerin. Eine Historikerin hätte sicher andere Akzente gesetzt, doch gewähren die unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Blickwinkel neue Einsichten auf bekannte Phänomene.

Der zweite - kürzeste - Teil behandelt Methoden und Methodologien. Neben übergreifenden Beiträgen zu ersten Ansätzen der Frauenforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Sabine Hering), zu Parteilichkeit und Betroffenheit (Christa Müller) und zu Forschungsmethodologie (Gabriele Sturm) werden einzelne spezifische Methoden wie Biografieforschung (Bettina Dausien) oder Netzwerkanalyse (Verena Mayr-Kleffel) erläutert. Ausnahmen von der Konzentration auf sozialwissenschaftliche Methoden sind die Beiträge von Annette Kuhn zur Oral history und Erinnerungsarbeit sowie von Margarete Jäger zur Diskursanalyse.

Im umfassendsten Teil "Arbeitsfelder und Forschungsergebnisse" wird in 39 Beiträgen deutlich, welche zahlreichen Forschungsgegenstände und -felder die Frauen- und Geschlechterforschung inzwischen bearbeitet. Unter den Gliederungspunkten "Lebensphasen und -lagen", "Arbeit, Politik und Ökonomie", "Körper und Gesundheit", "Bildung und Kultur" sowie "Frauenbewegungen und Gleichstellungspolitiken" werden Ergebnisse aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen vorgestellt - neben den Sozialwissenschaften auch Pädagogik und Bildungsforschung, Raumforschung, Politologie, Geschichts-, Wirtschafts-, Gesundheits- und Sportwissenschaften, Psychologie und Theologie.

Trotz des disziplinären Blicks einzelner Beiträge wird der interdisziplinäre Anspruch durch den Zuschnitt der Gliederungspunkte erfüllt. Auch gelingt mit den Beiträgen zu Frauenbewegungen und Gleichstellungspolitiken die Verbindung von wissenschaftlicher Reflektion und Erkenntnis mit frauen- und gleichstellungspolitischen Handlungsoptionen.

Zum Erfolg des Handbuchs trägt die gute redaktionelle Arbeit der Herausgeberinnen bei: Die Beiträge sind einheitlich gegliedert. Nach der Erläuterung zentraler Begriffe wird der aktuelle Forschungsstand mit den grundlegenden Diskussionen vorgestellt. Den Abschluss bilden zukünftige Forschungsfragen. Jeder Beitrag schließt mit einer Auswahlbibliografie (online zugänglich unter der URL: http://www.netzwerk-frauenforschung.de/download/auswahlbibliografie.pdf).

Über die Querverweise lassen sich auch Kontroversen und Streitpunkte nachzeichnen. Ein Stichwortverzeichnis mit über 450 Einträgen sowie ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren runden den Band ab.

Explizit historische Frauen- und Geschlechterforschung beleuchtet der vorzügliche Beitrag von Isabel Richter und Sylvia Schraut. Auf nur vier Seiten gelingt es den Autorinnen, sowohl die theoretischen Ansätze der Frauen- und Geschlechtergeschichte in ihrer Entwicklung aufzuzeigen als auch wesentliche Forschungsthemen der Geschlechtergeschichte von der Frühen Neuzeit bis zum 20. Jahrhundert vorzustellen. Bei der historischen Frauen- und Geschlechterforschung zum 19. Jahrhunderts konzentrieren sie sich auf jene Arbeiten, die "im Kontext der Auseinandersetzung der Geschlechtergeschichte mit der Sozialgeschichte entstanden" (627), da sie hier die meisten Berührungspunkte mit der sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung sehen. Zum 20. Jahrhundert stellen sie geschlechtergeschichtliche Studien mit Schnittstellen zur Politikgeschichte vor. Anknüpfend an die theoretischen Ansätze werden als neuere Themenfelder Studien zu Körper, Sexualität und Erfahrung benannt. Im Ausblick auf Forschungsfragen ziehen Richter / Schraut eine ambivalente Bilanz: Einerseits belege die "Fülle profunder Ergebnisse die Erklärungskraft der Kategorie Geschlecht". Andererseits sei es noch immer problemlos möglich, 'allgemeine' Geschichte zu schreiben, "ohne die Kategorie Geschlecht zu berücksichtigen" (629). Den Autorinnen gelingt damit, die Erkenntnistiefe der Geschlechtergeschichte bei gleichzeitig mangelnder Integration in die 'allgemeine' Geschichte aufzuzeigen, ohne - wie einige andere Artikel - ausschließlich das patriarchale Wissenschaftssystem zu beklagen.

Von den zahlreichen Beiträgen mit historischen Bezügen wären die Artikel von Sabine Hering zu den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Frauenforschung von 1900 bis 1930, von Barbara Duden zur Körpergeschichte und von Michiko Mae zu Nation, Kultur und Gender besonders hervorzuheben.

Die Autorinnen und Autoren der Beiträge sind meist renommierte Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Ansätze. Selbstverständlich erreicht dabei nicht jeder Beitrag gleich hohes Niveau. Leider gelang auch einigen Autorinnen und Autoren keine Distanz zum eigenen Ansatz. Nur so wären jedoch auch Kontroversen zu diskutieren gewesen. Unter diesem Manko leiden beispielsweise die Beiträge zum Matriarchat (Heide Göttner-Abendroth) und zur Sprache (Selma Trömel-Plötz). Dass es Protagonistinnen und Protagonisten von theoretischen Ansätzen dennoch glücken kann, Kritiken fruchtbar einzubinden, beweist der Beitrag von Christina Thürmer-Rohr zur Mittäterschaft.

Trotz des interdisziplinären Anspruchs liegt der Schwerpunkt des Handbuches auf den Gesellschaftswissenschaften. Kulturwissenschaftliche Ansätze - insbesondere aus der Literaturgeschichte, den Musik- und Kunstwissenschaften sowie der Philosophie - fehlen ebenso wie Beiträge aus den Natur- und Technikwissenschaften und der Medizin. Auch Stichworte aus der Gleichstellungspolitik - wie 'Gender Mainstreaming' oder 'Gender Budgeting' - werden nur unzureichend behandelt. Selbst der Beitrag von Mechthild Cordes zu Frauenförderung und 'Gender Mainstreaming' geht weder auf die relevante Literatur aus der Praxis ein, noch setzt er sich fundiert mit der Kritik von Wissenschaftlerinnen der Frauen- und Geschlechterforschung auseinander. [2]

Trotz dieser Einschränkungen legten Ruth Becker und Beate Kortendiek mit dem Handbuch "Frauen- und Geschlechterforschung" ein umfassendes und solides Überblicks- und Nachschlagewerk vor, das sowohl für die Lehre als auch für Wissenschaftlerinnen, die interdisziplinäre Ansätze aufgreifen wollen, sehr zu empfehlen ist.


Anmerkungen:

[1] Ulla Bock: Lexika, Glossare und Handbücher zur Frauen- und Geschlechterforschung, in: Querelles_Net 15 (März) 2005: URL: http://www.querelles-net.de/forum/forum15-1.shtml.

[2] Vgl. auch die Rezension von Barbara Stiegler, in: socialnet 03/05, URL: http://www.socialnet.de/rezensionen/2299.php.

Andrea Löther