Winfried Siebers / Joachim Rees: Erfahrungsraum Europa. Reisen politischer Funktionsträger des Alten Reichs 1750-1800 (= Aufklärung und Europa. Schriftenreihe des Forschungszentrums Europäische Aufklärung e.V.; Bd. 18), Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2005, 480 S., ISBN 978-3-8305-0563-1, EUR 49,00
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Die Erschließung neuen Quellenmaterials, dessen Aufarbeitung und Bereitstellung für die weitere wissenschaftliche Bearbeitung gehört zur Grundlagenforschung in den historischen Wissenschaften. Das ist ein Gemeinplatz, aber deshalb nicht weniger wahr. Im Hinblick auf die historische Reiseliteraturforschung erscheinen die Forderungen sowohl nach einer umfassenden bibliographischen Erfassung der Reiseberichte als auch nach einer breiten Erhebung bisher nicht edierter Reiseberichte bzw. anderer schriftlicher Zeugnisse, die Auskunft über Reisen geben, in schöner Regelmäßigkeit. Diese Wünsche haben durchaus ihre Berechtigung. Allerdings erweist sich deren Umsetzung als keineswegs einfach. In dieser Hinsicht ist der Beitrag der Potsdamer Arbeitsgruppe am Forschungszentrum für Europäische Aufklärung besonders hervorzuheben.
Der vorliegende Band ist das Ergebnis des von der DFG von 1998 bis 2002 geförderten Projekts "Die enzyklopädischen Europareisen der politischen Funktionsträger des Alten Reiches: Praktizierter Kulturtransfer 1763-1789". Ziel des von Christoph Frank, Joachim Rees, Winfried Siebers und Hilmar Tilgner durchgeführten Projekts war es, die Reisetätigkeit der politischen Elite des Alten Reiches in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhand von Primärquellen zu dokumentieren. Der nun von Rees und Siebers vorgelegte Band ist ein Auswahlverzeichnis der ermittelten Quellen, die diese Reisen beschreiben.
Dem kommentierten Quellenverzeichnis ist eine ausführliche Einleitung vorangestellt (11-112). Am Anfang steht ein knapper Überblick über die Themen und Schwerpunkte der Reiseliteraturforschung der letzten Jahrzehnte. Wichtig, nicht nur für den vorliegenden Zusammenhang, ist der Hinweis, dass der Anteil an gedruckten Reiseberichten aus dem Kreis der politischen Funktionsträger sehr gering ist. Bei der Recherche zu dem Projekt sind daher die Bestände von mehr als 80 Archiven und Bibliotheken gesichtet worden. Der Fokus lag dabei auf Tagebüchern, Briefen und weiteren die Reisen betreffenden Quellen, etwa Rechnungen und Instruktionen. Insgesamt konnten so 235 Reisen ermittelt werden, von denen 194 in unterschiedlichem Umfang dokumentiert sind, 61 davon durch Reisetagebücher.
Die Grundintention sowohl für die Erhebung insgesamt als auch für die vorliegende Quellenauswahl bestand darin, die komplexe Struktur der Überlieferung der Reise abzubilden. Neben den Tagebüchern kamen daher auch andere Quellen in Betracht, wobei es sich um vor- und nachbereitende sowie während der Reise anfallende schriftliche Zeugnisse handelt. Diese unterschiedlichen Quellen werden von den Autoren in vier Gruppen unterteilt. An erster Stelle stehen die "narrativen Quellen". Den Schwerpunkt bilden hierbei die Tagebücher und Briefe, die mit ihrer jeweiligen Sichtweise als besonders geeignet für die zentrale Fragestellung nach der individuellen Wahrnehmung und deren schriftlicher Fixierung angesehen werden. Die zweite Gruppe bilden die "dokumentarischen Quellen", also Listen, Rechnungen etc., die entsprechende Aufschlüsse über reisepraktische Fragen liefern können, so etwa auch über die Zusammensetzung der Reisegesellschaft. Einen dritten Schwerpunkt bilden "Umkreisquellen". Hierzu gehören in erster Linie Reiseinstruktionen, Anstellungsgesuche, Empfehlungsschreiben etc. Die letzte Gruppe stellen die "Bildquellen" dar. Diese reichen von Zeichnungen in den Tagebüchern über eingelegte Druckgraphiken bis hin zu eigens geführten Skizzenbüchern.
Ausführlicher widmen sich die Autoren dem Reisetagebuch als der zentralen Quelle ihrer Erhebung, das sie in Anlehnung an Michael Maurer als Leitgattung definieren. Die Gattungstraditionen des Tagebuchs, besonders des Notatenjournals, verbinden sich mit den Textfunktionen des Reiseberichts. Als dessen konstitutives Gattungsmerkmal heben Rees und Siebers in erster Linie den Wechsel zwischen dynamisch-narrativen und statisch-deskriptiven Elementen hervor. Mit Blick auf die kulturelle Funktion unterscheiden sie vier Bereiche: Information, Tradition, Memoria und Nachweis der Reise. Der Unterhaltungsaspekt wird als sekundär eingestuft, was im Hinblick auf die behandelten Berichte zweifelsohne richtig ist. Gleichwohl gewinnt diese Funktion am Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung, zumindest wenn man die (gedruckten) Reiseberichte insgesamt betrachtet.
Bei der wissenschaftlichen Bearbeitung von Reiseberichten ergeben sich zahlreiche Problemfelder, von denen die wichtigsten von den Autoren benannt werden. Dazu gehören die unterschiedlichen Bearbeitungsstufen der Berichte sowie der zeitliche Abstand der jeweiligen Redaktionen zur Reise selbst, die Kompilation der die Reise betreffenden Dokumente durch Dritte und die Einflüsse von bereits gedruckten Reiseberichten auf den Text. Gerade der letzte Punkt, der das Feld der Intertextualität und der Textgenese berührt, ließe sich noch um zahlreiche Aspekte erweitern, etwa um die Rezeption von Stadtbeschreibungen oder von landeskundlicher Literatur.
Die Reisetypen, die durch die ausgewählten Quellen repräsentiert werden, erfahren von den Autoren eine ausführliche Erläuterung. Die Unterteilung erfolgt nach der Reiseform und der sozialen Stellung der Reisenden, so dass sich folgende Typen finden: Fürstenreisen, Reisen von Fürstinnen und Prinzessinnen, Prinzenreisen, Informationsreisen in landesherrlichem Auftrag, Kavalierstouren und Ausbildungsreisen bürgerlicher Führungsschichten sowie Gebildetenreisen. Die früheste hier dokumentierte Reise ist die des Erbprinzen Christian Friedrich Karl Alexander von Brandenburg-Ansbach 1751-1753 in die Schweiz und nach Italien. Den Abschluss bildet die Reise der Erbprinzessin Auguste Caroline Sophie von Sachsen-Coburg-Saalfeld 1795 nach Russland. Gerade diese letzte Reise lenkt den Blick auf ein Feld, das erst in den letzten Jahren eine zunehmende Aufmerksamkeit erfahren hat, nämlich die Reisen von Fürstinnen und Prinzessinnen. Aus diesem Bereich versammelt der Band sechs Beispiele.
Zur Beschreibung der ausgewählten Reisen und ihrer textlichen Überlieferung entwickelten die Autoren ein aus bis zu elf Punkten bestehendes Raster, das sich an das Muster der von Werner Paravicini herausgegebenen Bände zur Bibliographie der europäischen Reiseberichte anlehnt. [1] Am Anfang stehen der "Hauptreisende" und das Reisejahr, gefolgt von der Rubrik Reiseland bzw. Reiseländer. Es schließen sich Angaben zur genauen Reisezeit und den Mitreisenden an. Ein Itinerar gibt Auskunft über den genauen Verlauf der Reise. Der Punkt "Handschriftliche Überlieferung" umfasst sämtliche im Zusammenhang mit der Reise stehenden Quellen, die ermittelt wurden. Der jeweilige Kommentar variiert nach der Überlieferungslage. Er enthält Angaben zum Anlass der Reise, zum biographischen Hintergrund des "Hauptreisenden" und zu den Mitreisenden. Weiterhin erfolgt eine Inhaltsangabe zur jeweiligen zentralen narrativen Quelle. Abschließend wird der individuelle Ertrag der Reise beleuchtet. In einem weiteren Punkt werden eventuelle spätere Reise aufgelistet. Jeder Beitrag enthält eine Literaturliste, die, sofern vorhanden, gedruckte Berichte nachweist und weitere Literatur zur Person bzw. zur Reise bietet. Für etwa die Hälfte der Beiträge schließt sich ein ausführlicher Textauszug an, der den typischen Charakter der Quelle spiegelt.
Insgesamt gewährt der Band einen guten Überblick über das breite Spektrum von Reisen der politischen Funktionsträger des Alten Reiches. Die ausführlichen Informationen zu den ausgewählten Reisen gestatten sowohl einen ersten Einblick in Bezug auf die jeweilige Reiseform und die Art und Weise des Berichts. Die Begründung der Auswahl der ausführlich dokumentierten 56 Reisen ist ausreichend. Sie entsprechen dem von den Autoren betonten Kriterium der Repräsentativität für die Reise- und Berichtsformen. Das Argument, dass auch die Aufnahme aller ermittelten Reisen kein vollständiges Bild geliefert hätte, zum einen aufgrund der Überlieferung, zum anderen durch die Beschränkung der Recherchemöglichkeiten, ist nicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl wäre es durchaus wünschenswert gewesen, wenn zumindest die 61 durch Tagebücher dokumentierten Reisen aufgeführt worden wären, da bei den 56 ausgewählten Reisen ohnehin die Mehrzahl in diese Gruppe gehört. Daneben wäre sicher auch eine kurze chronologische Aufstellung aller ermittelten Reisen interessant gewesen. Ein umfangreicher Anhang erleichtert die Benutzung des Bandes und liefert ergänzendes Material, etwa zu den abgebildeten Reiseporträts.
Vor dem Hintergrund des hier vorliegenden Bandes, der das bisher wenig beachtete Reiseverhalten der politischen Eliten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts behandelt, stellt sich aber auch die Frage, wie sich dieses am Beginn des 19. Jahrhunderts weiter entwickelte. Anders etwa als die Kriege des 18. Jahrhunderts dürften die Napoleonischen Kriege einen erheblich größeren Einfluss auf das Reiseverhalten gehabt haben. Das betrifft zum einen die geographische Ausdehnung der Auseinandersetzungen, die viele "klassische" Reisestationen zu Kriegsschauplätzen machte. Zum anderen erschwerten die direkten und indirekten ökonomischen Folgen der Konflikte das Reisen allein schon aus praktischen Gründen. Die Herausbildung von Nationalstaaten und Grenzen im eigentlichen Sinn schränkte die Bewegungsfreiheit ein. Zudem büßten die klassischen Reiseformen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels, der sich im 19. Jahrhundert vollzog, ihre Bedeutung ein. Auf der einen Seite beginnt der Übergang zum modernen Tourismus, und auf der anderen Seite findet sich die Forschungsreise. Das heißt aber zugleich, dass sich auch in dieser Richtung nicht wenige Anknüpfungspunkte für weitere Arbeiten im Kontext der historischen Reiseliteraturforschung ergeben.
Anmerkung:
[1] Werner Paravicini (Hg.): Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analytische Bibliographie, 3 Teile, Frankfurt a. M. 1994 / 1999 / 2000.
Holger Kürbis