Stefan Gerber: Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation im 19. Jahrhundert. Der Jenaer Pädagoge und Universitätskurator Moritz Seebeck (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 14), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 713 S., ISBN 978-3-412-12804-3, EUR 69,90
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Wer heute eine wissenschaftliche Biografie schreibt, muss mehr anstreben als eine reine Lebensbeschreibung, die ihre Relevanz zum großen Teil aus der Bedeutung der beschriebenen Person zu ihren Lebzeiten erhält. Es muss um Strukturen gehen, um Bezüge zu anderen Personen und übergeordnete Zusammenhänge, um Handlungsspielräume und Einflussmöglichkeiten. Das gilt besonders für Akteure in der zweiten und dritten Reihe von Entscheidungsträgern in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Stefan Gerber hat eine solche Ausrichtung für seine Studie über den Jenaer Pädagogen Moritz Seebeck gewählt, um so die Besonderheiten der Wissenschaftsorganisation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten, sowohl im nationalen Kontext als auch speziell im kleinstaatlichen des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. Nur der biografische Zugang erlaube es, sich die Strukturen der Wissenschafts- und Universitätsorganisation der Epoche umfassend zu erschließen. Die Jenaer Dissertation versteht es, das am gewählten Beispiel überzeugend durchzuspielen, obschon, im Wesentlichen der Natur der Biografie geschuldet, eher für den kleinstaatlichen als für den nationalstaatlichen oder allgemeinen Kontext. Für den Kurator Moritz Seebeck und seinen akademischen bzw. kleinstaatlichen Aktionsrahmen dürfte sie allerdings in ihrer Detailtreue kaum zu übertreffen sein.
Moritz Seebeck (1805-1884) hatte bereits in verschiedenen Positionen und Tätigkeitsbereichen gewirkt, als er 1851 die Stelle als Kurator der Universität Jena antrat, die er bis 1877 und damit für den größten Teil seines Arbeitslebens innehaben sollte. Nach den Erfahrungen im Schulwesen, Kultusministerium, als Prinzenerzieher und im diplomatischen Dienst glaubte sich der "Reformer aus konservativer Vernunft" (662) erst in der neuen Position in Jena am richtigen Platz, in jenem Beruf, den er ausüben wollte. In der Funktion konnte er Einfluss auf die Personal- bzw. Berufungspolitik als eigenständiges Instrument ausbilden, wobei er seine persönlichen Maßstäbe sowohl unter den Bedingungen an der Jenaer Universität mit ihren begrenzten finanziellen Mitteln als auch im Wechselspiel mit den staatlichen Vorgaben umsetzen musste. Er begann als Vermittler und Berater, konnte sich aber schließlich die Position eines Gestalters und Organisators in Berufungsfragen erarbeiten, wie die kontrovers gehandelten Berufungen der Philosophen Kuno Fischer und Rudolf Eucken belegen, die Seebeck betrieben hatte. Zwei Folgerungen lassen sich daraus für die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte ableiten. Zum einen war der beachtliche Einfluss Seebecks so wohl nur in einem Kleinstaat möglich, in dem Faktoren wie persönliche Netzwerke, Vertrautheit mit Kultusverwaltung, frühere politisch-diplomatische Tätigkeit, Verzicht auf fachliche Spezialisierung zusammenwirken und einem Einzelnen größere Handlungsspielräume eröffnen konnten. Zum anderen ist jedoch bemerkenswert, dass sich aus dem wiederholten Erfolg kein Automatismus entwickelte oder sich das "System Seebeck" - der Begriff wird in Analogie zum "System Althoff" in Preußen verwandt - mit seiner Improvisation und seiner Zurückhaltung in Sachen Professionalisierung der Universitätsverwaltung verstetigen konnte. Vielmehr hatte sich diese spezifische Vorgehensweise innerhalb der gewandelten Wissenschafts- und Universitätslandschaft zum Ende des 19. Jahrhunderts überholt. Am Ende seiner Laufbahn musste Seebeck gar den Fehlschlag hinnehmen, sich in der Frage seiner Nachfolge mit dem Wunschkandidaten nicht durchsetzen zu können.
Für Rudolf Eucken verkörperte Seebeck in seiner Persönlichkeit noch jene Einheit, die angesichts der Differenzierung der bürgerlichen Kultur im 19. Jahrhundert verloren zu gehen drohte. Tatsächlich, so der zweite große Bereich Seebeck'scher Wissenschaftspolitik, drängte der neuhumanistisch erzogene Kurator auf eine Anpassung der Universitäten an die rasante Entwicklung in der Wissenschaft, die nach Möglichkeit die wachsende Kluft zwischen Forschung und Alltag reduzieren oder gar schließen helfen sollte. Im Idealfall erhielten die Menschen, so die Grundidee, unmittelbar aus der Wissenschaft Orientierungshilfen für ihr Leben. Wie die von Seebeck begleitete Institutionalisierung neuer Disziplinen aus dem Bereich der früheren Naturgeschichte vor Augen führte, ließ sich dieser Anspruch angesichts des Wandels in Wissenschaft und Gesellschaft immer schwerer einlösen. Während die Bedingungen einer Gesellschaft im Aufbruch das Bemühen um Einheit konterkarierten, war dem Kurator durch die Berufungspolitik immerhin ein Erfolg in dem Bestreben beschieden, "die Kluft zu finanziell besser ausgestatteten Universitäten nicht noch breiter werden zu lassen und damit die Universität Jena am Leben zu erhalten" (661).
Obschon ein Leser am Ende dieser Universitätsgeschichte auf biografischer Grundlage ein klares Bild vom Protagonisten, seinen Motiven, Maßnahmen, Erfolgen und Misserfolgen erhalten hat, obschon er das Handeln der Person in die besonderen Strukturen Jenas und des Staates Sachsen-Weimar-Eisenach einzuordnen weiß, bleibt doch einiges offen. So drängt sich der Wunsch auf, die eingangs angekündigte Einordnung in "Grundstrukturen der Wissenschaftsorganisation [...] allgemein" (14) wäre intensiver umgesetzt worden, etwa durch den Vergleich mit Verfahren und Strukturen in anderen Staaten des Reiches oder durch Abgleich mit zeitgenössischen Transformationen der bürgerlichen Kultur wie etwa der wachsenden Bedeutung der Wissenschaftspopularisierung. Hier und da, spätestens jedoch in der Zusammenfassung, hätte man sich zudem mehr "Struktur" oder Abstraktion und weniger - biografisches - "Detail" vorstellen können.
Angela Schwarz