Helmut Kohl: Erinnerungen 1982 - 1990, München: Droemer Verlag 2005, 1133 S., ISBN 978-3-426-27320-3, EUR 29,90
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Bereits im Vorwort des zweiten Bandes seiner Erinnerungen, der mit den Koalitionsverhandlungen im Herbst 1982 einsetzt und bis zum Wahlsieg der Union für Deutschland in den ersten gesamtdeutschen Wahlen im März 1990 reicht, setzt der Exkanzler die Markierungen, die er für zentral hält. So versucht er den Leser gleich zu Beginn davon zu überzeugen, dass sein Regierungshandeln stets vom Streben nach der deutschen Einheit geprägt war ("Präsent aber war dieses Ziel immer" - 12). In diesem Licht sieht er auch den NATO-Doppelbeschluss, den er als "das wichtigste Verdienst" seiner Regierung wertet und als "eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Wiedervereinigung" ansieht (11). Für die Realisierung der Wiedervereinigung 1989/90 ist Kohl zufolge in erster Linie Bush und Gorbatschow zu danken - ohne dass er damit "die Bedeutung des Beitrags unserer Landsleute schmälern" wolle, "die in der DDR gegen das Regime demonstrierten" (13). Hart geht Kohl bereits im Vorwort mit seinen innerparteilichen Gegnern ins Gericht: "Während ich versuchte" - so seine Feststellung - "auf die weltpolitischen Veränderungen Einfluss zu nehmen und sie mitzugestalten, planten vermeintliche Gefährten meinen Sturz als Parteivorsitzenden und Bundeskanzler" (13).
In diesen wenigen Sätzen ist die Grundmelodie der Erinnerungen eingefangen. Auf der einen Seite der Bundeskanzler als Mitgestalter der Weltpolitik, der insbesondere die Beziehungen zu den USA und Frankreich festigt und damit die Basis für eine erfolgreiche Wiedervereinigungspolitik schafft. Auf der anderen Seite seine Kritiker, für die Kohl nur Verachtung übrig hat. Sicherlich gesteht auch Kohl Fehler ein, so z. B. sein Vergleich Gorbatschows mit Goebbels ("Es war dumm von mir, Gorbatschow und Goebbels in einem Atemzug genannt zu haben." - 451). Letztlich macht Kohl für diesen Fauxpas aber die Presse verantwortlich, der er ebenfalls vorwirft, die Skandalisierung seines gemeinsamen Auftritts mit Präsident Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg betrieben zu haben.
Die Erinnerungen haben keine richtige Gliederung. Auf Teil I mit der Überschrift "Zwischenzeit", der die Monate bis zur Bundestagswahl 1983 abhandelt, folgen die Teile II und III, in denen jeweils spezifische Aspekte der ersten und zweiten Regierung Kohl unter 42 bzw. 58 Stichworten insgesamt in etwa chronologisch, aber jeweils ohne inneren Zusammenhang, aneinander gereiht werden. Dies mag den Prozess politischen Handelns widerspiegeln, verschafft dem Leser aber nicht die wünschenswerte Orientierung.
Interessant sind die Erinnerungen Kohls insbesondere im Hinblick darauf, wie er sich zu politischen Mitstreitern äußert. Dass sein Verhältnis zu Strauß stets schwierig war, war bereits seit Kohls Auftreten in Bonn ein offenes Geheimnis und ist von letzterem im ersten Band seiner Erinnerungen in aller Offenheit thematisiert worden. Im vorliegenden Band fällt Kohls Urteil über Strauß insgesamt überraschend differenziert aus, obwohl er nach wie vor bestrebt ist, Strauß' Einfluss auf die Bundespolitik klein zu reden. Das zeigt sich bereits im Abschnitt über den Milliardenkredit und ebenso in der Würdigung, die Kohl im Zusammenhang mit Strauß' Ableben gibt. "Gern ließ ich ihn in dem Glauben" - so sein Resümee - "Einfluss auf die Regierungskoalition zu nehmen. Doch in Wahrheit tendierte sein Einfluss gegen null" (748). Gleichwohl betont Kohl, dass das Verhältnis zwischen Strauß und ihm "in den letzten Jahren von gegenseitigem Respekt geprägt" gewesen sei (747). Ob dies zutreffend ist, erscheint zweifelhaft, da Kohl selbst eingesteht, dass Strauß bis zu seinem Tod der Ansicht war, dass er "der bessere Mann im Kanzleramt" gewesen wäre (748).
Äußerst kritisch fällt das Urteil Kohls über Richard von Weizsäcker aus. Bereits die Darstellung der Vorgeschichte seiner Wahl zum Bundespräsidenten zeigt einen Politiker, der aus persönlichem Ehrgeiz das Amt anstrebt und Interessen der Partei hintanstellt. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Politikern war danach bereits gestört, und - so Kohl - "während seiner anschließenden zehnjährigen Amtszeit blieb eine spürbare Distanz zwischen uns beiden" (258). Kohl zählt von Weizsäcker zu den "Bedenkenträgern" im Vereinigungsprozess und unterstellt ihm fehlende Freude über die Erfolge Kohls in der Deutschlandpolitik, die zur Wiedervereinigung führten.
Heftige Attacken auf den Bundespräsidenten reitet Kohl im Zusammenhang seiner Darstellung des Deutschlandbesuchs von SED-Chef Erich Honecker in Bonn im Jahr 1987. Es ist offensichtlich, dass sich Kohl bis heute schwer tut mit diesem Besuch, den die DDR-Führung als Anerkennung interpretierte. Kohl ist in seinen Erinnerungen bestrebt, sein Verhalten während des Besuchs als Einsatz für die deutsche Einheit zu interpretieren, obwohl seine Tischrede eher darauf hinweist, dass es ihm damals - wie der Mehrzahl der anderen westdeutschen Politiker auch - darum ging, die Teilung erträglicher zu machen. Was diesen Punkt anbetrifft, fühlt sich Helmut Kohl im Nachhinein vom Bundespräsidenten im Stich gelassen. Ihm wirft er vor, ausweislich der Protokolle der DDR-Delegation im Gespräch mit Honecker "kein Wort zu den Menschenrechtsverletzungen in der DDR" gesagt, "keine Frage zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche oder zum Schießbefehl der Grenztruppen" gestellt zu haben (561).
Kohls Erinnerungen enthalten auch über andere Politiker deutliche, meist abschätzige Urteile: so zu Weggefährten wie Norbert Blüm, Heiner Geißler, Rita Süßmuth oder Lothar Späth, aber auch zu politischen Gegnern wie Johannes Rau. Der erfolgreiche Staatsmann Kohl, am Ende der 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre einer der Großen der internationalen Politik, zeigt sich in seinen Erinnerungen ausgesprochen nachtragend - und sein Urteil fällt oft ungerecht aus. Erst die Geschichtsschreibung über diese Phase bundesdeutscher Politik, die mit den Werken von Andreas Wirsching und Manfred G. Schmidt bereits eingesetzt hat, wird zu einer objektiveren Behandlung der Zusammenhänge führen und auch die Sachfragen, z. B. innenpolitische Problemlagen und außenpolitische Handlungszwänge, stärker in die Betrachtung einbeziehen.
Udo Wengst