Ulrich Muhlack: Staatensystem und Geschichtsschreibung. Ausgewählte Aufsätze zu Humanismus und Historismus, Absolutismus und Aufklärung (= Historische Forschungen; Bd. 83), Berlin: Duncker & Humblot 2006, 357 S., ISBN 978-3-428-12025-3, EUR 62,00
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Zu der fest etablierten akademischen Gepflogenheit, einem Wissenschaftler zum 65. Geburtstag eine Festschrift zu widmen, ist es durchaus eine gewinnbringende Alternative, den Jubilar statt dessen durch die Herausgabe seiner Schriften in Form eines Sammelbandes zu ehren. Genau dies haben Notker Hammerstein und Gerrit Walther unternommen, um den 65. Geburtstag von Ulrich Muhlack, Professor für Allgemeine historische Methodenlehre und Geschichte der Geschichtswissenschaft am Historischen Seminar in Frankfurt am Main, wissenschaftlich zu würdigen. Dass dabei die ablehnende Haltung des Jubilars gegenüber gut gemeinten, aber häufig wenig kohärenten Festschriften eine Rolle spielte, heben die Herausgeber in ihrem Vorwort hervor.
Der Band versammelt insgesamt 14 Aufsätze Muhlacks, die im Zeitraum von 1978 bis 2004 erschienen sind. Ein wichtiges Kriterium für die Auswahl dieser Schriften war es, wie die Herausgeber einleitend betonen, gerade solche Aufsätze aufzunehmen, die ihrer Ansicht nach vermutlich weniger bekannt sind. Damit wird dem Leser der Facettenreichtum des Œuvres Muhlacks vor Augen geführt und zugleich einer breiteren Fachöffentlichkeit die Möglichkeit gegeben, "sich die Forschungsleistung eines Gelehrten zu vergegenwärtigen, der die deutschsprachige Historiographiegeschichte seit den Siebziger Jahren auf wichtigen Themenfeldern entscheidend mitgeprägt hat." (5)
Ohne Zweifel zählt Ulrich Muhlack zu den ausgewiesenen Kennern der Ideengeschichte des Humanismus, der Aufklärung und des Historismus. Das vielleicht bekannteste Ergebnis der jahrzehntelangen Beschäftigung mit diesen Themen ist seine Arbeit zur Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. [1] Auch der zu besprechende Band vermittelt einen guten Eindruck von den Erträgen der Arbeiten Muhlacks zu diesen Forschungsfeldern.
Die Herausgeber haben sich angesichts der schwierigen Aufgabe, dem Themenreichtum der ausgewählten Aufsätze gerecht zu werden, dazu entschlossen, dem Band keine chronologische, sondern eine systematische Ordnung zugrunde zu legen. Diese Entscheidung erweist sich insgesamt gesehen als richtig. Denn der Leser vermag durch die gewählte Aufteilung inhaltliche Berührungspunkte der jeweils zu einer Gruppe zusammengefassten Einzelbeiträge nachzuvollziehen.
Die erste Gruppe bilden zwei Aufsätze, die sich mit Epochenfragen auseinandersetzen. Muhlack untersucht darin die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Humanismus und reflektiert über das europäische Staatensystem als Epochensignum der Frühen Neuzeit. Drei weitere Aufsätze sind vorrangig der französischen Geschichte (Thronfolge und Erbrecht, Heeresorganisation sowie Physiokratie und Absolutismus) gewidmet. Hier finden sich unter anderem aufschlussreiche Ausführungen, die gerade vor dem Hintergrund des in der derzeitigen Forschung kontrovers diskutierten Absolutismus-Problems besonders lesenswert sind und die trotz der Zeit, die seit ihrem ersten Erscheinen vergangen ist, nichts an Aussagekraft verloren haben. Die dritte Gruppe enthält vier Aufsätze, die sich historiographischen Sujets zuwenden. Behandelt werden die humanistische Historiographie, der Zusammenhang von Historie und Philologie, die Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen sowie Schillers Konzept der Universalgeschichte. Die vierte und größte Gruppe schließlich umfasst Themen, die schwerpunktmäßig im 19. Jahrhundert angesiedelt sind. Im Fokus stehen hierbei die Gründung der Universität Berlin, die Stellung deutscher Historiker in der internationalen "Scientific Community", die Bedeutung der "Germania" des Tacitus für das frühe deutsche Nationalbewusstsein, Historie und Politik im Vormärz sowie schließlich das europäische Staatensystem in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts - wahrlich Forschungsfelder, die eine beeindruckende inhaltliche Breite erkennen lassen.
Unternimmt man den Versuch, so etwas wie einen roten Faden herauszuarbeiten, einen Grundzug, der das Werk Muhlacks und seine Aufsätze im vorliegenden Band durchzieht, dann wird man zuvorderst die Interdependenzen zwischen Wissenschaft und Politik hervorheben müssen. Gerade in dieser Hinsicht stößt der Leser im hier besprochenen Sammelband auf regelrechte Juwelen. Ein aus Sicht des Rezensenten besonders lesenswertes Beispiel sei hier ausführlicher angeführt.
In seinem Aufsatz über Geschichte und Geschichtsschreibung bei Voltaire und Friedrich dem Großen arbeitet Muhlack Ähnlichkeiten und Unterschiede der historiographischen Werke der beiden genannten Persönlichkeiten heraus. Sowohl in Voltaires "Siècle de Louis XIV" als auch in Friedrichs "Mémoires pour servir àl'histoire de la maison de Brandebourg", die von Voltaires "Siècle" inspiriert waren, findet sich der Anspruch, nicht nur die politische Geschichte im engeren Sinn zu erfassen, sondern vielmehr eine umfassend verstandene Zivilisationsgeschichte zu schreiben. Jedoch hat die Darstellung der politisch-militärischen Ereignisgeschichte bei Voltaire, wie Muhlack überzeugend herausarbeitet, tendenziell eine dienende Funktion, die letztlich dazu beitragen sollte, den Fortschritt des "esprit humain", um den es Voltaire primär ging, erkennbar werden zu lassen.
Anders verhielt es sich bei Friedrich, dessen Geschichtsschreibung von dem Topos der "historia magistra vitae" geprägt war und der sich erhoffte, mit seinen historischen Arbeiten seinen Nachfolgern konkretes Handlungswissen zu vermitteln. In den "Mémoires" ist die Darstellung der politischen und militärischen Ereignisgeschichte den Kapiteln zu den inneren Verhältnissen Brandenburg-Preußens erkennbar übergeordnet. Für den König war die historiographische Darstellung der sozialen, wirtschaftlichen oder auch religiösen Zustände letztlich dazu da, die Rahmenbedingungen von Diplomatie und Kriegführung kenntlich zu machen. Insofern waren Friedrichs "Mémoires" - bei allen äußeren Gemeinsamkeiten zu Voltaires "Siècle" - ein eigenständiger Entwurf, der nicht zuletzt das Selbstbewusstsein des preußischen Monarchen widerspiegelte, für sich selbst als einem der Protagonisten der europäischen Mächtepolitik größere Kompetenz bei der Darstellung ereignisgeschichtlicher Abläufe beanspruchen zu können, als er es Voltaire zuzugestehen bereit war. Diese Wechselwirkungen der beiden Werke und die politischen Implikationen des Geschichtsverständnisses des Preußenkönigs hat Muhlack mit großer methodischer und inhaltlicher Präzision herausgearbeitet.
Insgesamt gesehen stellt der vorliegende Band eine würdige Bilanz des Schaffens Ulrich Muhlacks dar. Die Beiträge zeigen ihn als einen Historiker, dessen fachliche Breite und inhaltliche Tiefe bemerkenswert sind. Es kann nur befruchtend für die weitere Forschung sein, dass nunmehr eine Sammlung seiner Aufsätze vorliegt, die einen schnellen, zudem durch ein Personenregister erleichterten Zugriff auf seine Forschungsleistung ermöglicht.
Anmerkung:
[1] Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991.
Michael Rohrschneider