Rezension über:

Tim Rood: Thucydides. Narrative and Explanation (= Oxford Classical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2004, XI + 339 S., ISBN 978-0-19-927585-4, GBP 19,99
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Rezension von:
Thomas Paulsen
Institut für Klassische Philologie, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Paulsen: Rezension von: Tim Rood: Thucydides. Narrative and Explanation, Oxford: Oxford University Press 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12 [15.12.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/12/7341.html


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Tim Rood: Thucydides

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Die 1998 erstmals publizierte, aus einer Dissertation hervorgegangene Monografie von Tim Rood liegt seit 2004 in einer preiswerteren Paperbackausgabe vor. Als Schüler von Simon Hornblower, einem der renommiertesten Thukydides-Forscher unserer Tage, brachte Rood die besten Voraussetzungen für sein Werk mit, und es darf ihm vorab bescheinigt werden, dass ihm ein großer Wurf gelungen ist.

In bislang nicht gekannter Ausführlichkeit und Gründlichkeit wird unter Berücksichtigung der wichtigsten einschlägigen narratologischen Forschungen von Gérard Genette (1983), Mieke Bal (1985) und Irene de Jong (1987) die Erzähltechnik des Thukydides unter die Lupe genommen, wobei in einer Appendix (294-296) insbesondere die Schwächen von Bals und de Jongs Fokalisationsmodell herausgearbeitet werden. In gut lesbarem Stil vermittelt Rood anhand der Untersuchung von zum Teil längeren Einzelpassagen viele innovative Eindrücke davon, wie wesentlich das Verständnis der narrativen Strategien dieses Autors für die Interpretation seiner Sichtweise von Geschichte ist, die durchaus mit einer Manipulation des Lesepublikums einhergehen können.

Nach Roods Analyse sind die wichtigsten Mittel, mit denen Thukydides seine Erzählung in den Dienst der Deutung historischen Geschehens stellt, die Folgenden: Mithilfe von Prolepsen und Analepsen werden auch zeitlich weit voneinander entfernte Ereignisse zur wechselseitigen Beleuchtung miteinander verknüpft. So korrespondiert die Prolepse des athenischen Scheiterns mit der Sizilischen Expedition in II 65 mit der Analepse der alten Stärke zur Zeit des Perikles in VI 31, wodurch Thukydides den Kontrast zwischen dem athenischen Imperialismus in der zweiten Hälfte des Peloponnesischen Kriegs und der auf außenpolitisches Maßhalten ausgerichteten perikleischen Politik herausstellt (124 f.). Generell weist der Historiker durch Verknüpfung der Gegenwart der Akteure mit der Vergangenheit Ähnlichkeiten und Konstanten im menschlichen Handeln auf (130).

Die sorgfältige Analyse der vielleicht wichtigsten Technik, mit der Thukydides derartige Verknüpfungen herstellt, gehört zu den größten Verdiensten Roods: die "Echotechnik", mit welcher der Historiker durch die Wiederholung markanter Formulierungen sein Publikum auf frühere Passagen im Werk zurückverweist. Wenn zum Beispiel Sparta die Athener davor warnt, ihr Kriegsglück überzustrapazieren und nach immer mehr zu streben (IV 17.4), sich aber bald danach durch die Wiederholung ähnlicher Formulierungen zeigt, dass Athen diesen vernünftigen Rat in den Wind schlägt (IV 21,2; 41,4), wird daran der Grundzug der athenischen Politik klar, der zu einem Gutteil das letztendliche Scheitern im Peloponnesischen Krieg bedingt (39 f.). So bestätigt Thukydides oft durch den Gang der Erzählung, was zuvor in Reden konstatiert wurde (45). Auffallend ist, dass Rood nicht ausführlicher auf die insbesondere von Hellmut Flashar [1] herausgearbeiteten Korrespondenzen und Echos zwischen Epitaphios und Pestschilderung im II. Buch (siehe insbesondere II 41,1; 51,3) eingeht, die seine Argumentation eindrucksvoll bestätigen, zumal die unmittelbare Aufeinanderfolge dieser zwei in Wirklichkeit mehrere Monate voneinander getrennten Ereignisse besonders gut Thukydides' Vorliebe für Anachronien zeigt, denen Rood ein ganzes Kapitel widmet (109-130).

Ausgezeichnet ist dafür wieder sowohl die Untersuchung der unterschiedlichen Erzähltempi des Thukydides, die Rood als gewollt und nicht als Ausdruck einer fehlenden Schlussüberarbeitung durch den Autor erweist (285 f.), als auch das Erklärungsmodell für die unterschiedliche Häufigkeit von Reden im Werkganzen. Im außerordentlich redenarmen V. Buch wird auf diese Weise deutlich, dass in Athen und Sparta zwar viel geredet, aber wenig erreicht wurde, was Thukydides in V 36,1 und 50,5 explizit formuliert (91).

Diese kleine spotlightartige Auswahl an Beobachtungen soll genügen, um den originellen und innovativen Ansatz Roods zu beleuchten. Als einzige erwähnenswerte Schwäche betrachte ich, dass der Verfasser Thukydides nicht im Original, sondern mit Ausnahme von Einzelformulierungen nur in (allerdings sehr präziser) englischer Übersetzung präsentiert, sodass dem Leser bereits die interpretierende Sicht des Übersetzers dargeboten wird. Dieses Detail kann aber natürlich den hervorragenden Gesamteindruck dieser für die Thukydides-Forschung bedeutenden Monografie nicht beeinträchtigen.


Anmerkung:

[1] Hellmut Flashar: Der Epitaphios des Perikles, Heidelberg 1969.

Thomas Paulsen