Rezension über:

Veronica Franklin Gould: G. F. Watts. The Last Great Victorian, New Haven / London: Yale University Press 2004, XIV + 458 S., ISBN 978-0-300-10577-3, GBP 40,00
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Rezension von:
Takuro Ito
Kunsthaus Lempertz, Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Takuro Ito: Rezension von: Veronica Franklin Gould: G. F. Watts. The Last Great Victorian, New Haven / London: Yale University Press 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12 [15.12.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/12/7600.html


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Veronica Franklin Gould: G. F. Watts. The Last Great Victorian

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Es geht also um keinen geringeren als "The Last Great Victorian". So zumindest lautet der Untertitel der Biografie von George Frederic Watts, die Veronica Franklin Gould nun vorgelegt hat. "Der letzte große Viktorianer" - Dies klingt allzu sehr nach jenen hagiografischen Biografien großer Männer, die das viktorianische Zeitalter selbst so liebte. Und tatsächlich gründet Franklin Gould ihre Biografie auf einer Genieästhetik des 19. Jahrhunderts und feiert Watts als Erzieher, Propheten, Leidenden und Suchenden, als ersten Künstler der Nation und Praeceptor Britanniae.

Bereits die ersten Kapitel, in denen die Verfasserin Kindheit und Jugend des Künstlers darstellt, präsentieren die bekannten Topoi einer idealen Künstlerbiografie. Wir erfahren etwa, dass Watts bereits fünfzehnjährig von Scham überwältigt worden sei, weil er noch nichts Großes geleistet habe (6). Der junge Künstler wird als sensibel und einsam dargestellt, er ist mit einer schwachen körperlichen Konstitution ausgestattet, es gibt persönliche Schicksalsschläge.

Franklin Gould stimmt von Beginn an einen hohen Stil an und folgt dem Bild von Watts als Nationalkünstler des viktorianischen Zeitalters, dessen Leben nur ein vorherbestimmtes Telos haben konnte: Eben der letzte große Viktorianer zu werden. Entsprechend erhaben klingen die Titel der 25 Kapitel dieser Biografie. Sie lauten "A Caged Eagle", "Crusade Against Bare Walls" "Genius Exposed" oder "Revelations". Man hätte sich gewünscht, dass Franklin Gould dieses Bild als das aufzeigt, was es war: Ein von Watts selbst, aber auch von seinen zahlreichen Bewunderern konstruiertes und sorgsam gepflegtes Image. Die Autorin macht dies eher unterschwellig deutlich, nicht im Text, sondern durch die zahlreichen Fotografien, die sie im Buch abbildet. Diese Fotografien zeigen Watts, wie er in seinem Atelier inmitten seiner großformatigen Gemälde posiert, sich als einsam Schaffender in Szene setzt und dabei aussieht wie Tizian in seinen späten Selbstporträts. Watts hatte in diesen Fotografien, wie in den Anekdoten über seine Jugend, offensichtlich die Mit- und Nachwelt fest im Blick; Franklin Gould tut ihm mit ihrer Biografie den Gefallen und bestätigt dieses Image.

Wie erwähnt ist die Lebensbeschreibung in 25 Einzelkapitel unterteilt, welche die wichtigsten Stationen des Lebens und Schaffens darstellen: Der Aufenthalt in Italien, wo Watts die Kunst Michelangelos entdeckt; die Ausschmückung des neuen Parlamentsgebäudes mit Fresken; die Aufnahme in die Royal Academy; die öffentlichen Aufträge; die Beteiligung an Ausstellungen in England, auf dem Kontinent und in den Vereinigten Staaten; die unglückliche Ehe mit der jungen Schauspielerin Ellen Terry; seine Förderer und Künstlerfreunde.

Die Lektüre der Biografie zeigt: Franklin Gould, die die Jubiläumsausstellung der Watts Gallery in Compton kuratiert hat, ist zweifelsohne eine hervorragende Kennerin der Materie. Dies führt jedoch dazu, dass sie Watts' Leben zuweilen allzu detailreich vor dem Leser ausbreitet. Die höchst unglückliche Ehe mit Ellen Terry etwa wird unnötig lang dargestellt. Wir erfahren unter anderem, dass die Hochzeitsnacht "nach nicht erwiesenen Berichten" missglückt und damit nicht vollzogen worden sei (68). Der Leser wundert sich, was er mit einer solchen Information anfangen soll und staunt noch mehr, wenn er die dazugehörige Fußnote liest. Dort schreibt die Verfasserin allen Ernstes, dass auch bei John Ruskin (übrigens ein anderer "Great Victorian") die Ehe nicht vollzogen wurde, und zwar weil Ruskin, der nur die ideale Nacktheit auf Gemälden kannte, sich über die Schamhaare seiner Angetrauten entsetzt habe (F 90). Will Franklin Gould das Vorurteil vom spleenigen Briten und vom sexuell verklemmten viktorianischen Zeitalter bestätigen? Wer noch nichts über die psychischen und sexuellen Probleme Ruskins wusste, muss sie nicht in der Fußnote einer Watts-Biografie erfahren.

Der allzu detaillierten Darstellung des Lebens steht die allzu knappe Analyse der Werke gegenüber. Oftmals begnügt sich die Verfasserin damit, zeitgenössische Kritiken über die besprochenen Werke zu zitieren, die jedoch nicht selten nichts sagend sind. Vielleicht wäre es grundsätzlich sinnvoller gewesen, die diachrone Lebenserzählung durch Kapitel zu unterbrechen, in denen Aspekte des Werkes analysiert und kontextualisiert werden. Franklin Gould bemüht sich durchaus um eine solche Kontextualisierung. So stellt sie das Werk von Watts in den größeren Zusammenhang der kontinentalen Kunstströmungen und hebt seinen Anteil an der Entwicklung des Symbolismus hervor. Die Verfasserin folgt damit den Bemühungen der britischen Kunstgeschichtsschreibung, gegenüber einem Frankozentrismus in der Forschung den Beitrag britischer Künstler für die Kunstentwicklung des 19. Jahrhunderts hervorzuheben. [1] Tatsächlich war die Bedeutung von Watts für den kontinentalen Symbolismus nicht unerheblich, wie die Aufträge und Ausstellungsbeteiligungen in Frankreich zeigen oder die Erwähnung Watts' in Joris Huysmans Roman "A Rebours".

Problematisch wird Franklin Goulds Darstellung jedoch, wenn sie versucht, auch eine künstlerische Verbindung zum impressionistischen Kreis um Manet herzustellen. So versteigt sie sich unter anderem dazu, Watts Gemälde "Peacock Feathers - A Study" mit Manets "Olympia" zu vergleichen. Ersteres habe für die englische Kunstentwicklung die gleiche Bedeutung gehabt wie Letzteres für die französische (64). Solche Vergleiche sagen gemeinhin wenig aus. Zwar lösten beide Werke einen Kunstskandal aus; ansonsten handelt es sich bei Watts' Werk um einen biederen Akt, der die prüden viktorianischen Gemüter erregte, während Manets Bild bis heute als Hauptwerk der Moderne gilt. Franklin Goulds permanenter und etwas penetranter Verweis auf diese Verbindung zwischen den französischen Impressionisten und Watts hat wohl ein Ziel: Watts in den Kontext der französischen Avantgarde zu stellen und ihn damit als Avantgardisten zu rehabilitieren, nachdem ihn die englische Moderne um den Bloomsbury-Kreis zum Prototyp des anti-modernen Künstlers und konservativen Vertreters des viktorianischen Zeitalter stigmatisiert hatte. [2]

Trotz dieser Kritik ist die Biografie durchaus lesenswert. Die Lektüre lässt erahnen, warum Watts bereits zu Lebzeiten verehrt und kanonisiert wurde, und warum seine großformatigen Gemälde mit den bombastisch-nebulösen, hermetischen Allegorien und den Darstellungen existenzieller Extremzustände, die heute so unverständlich wirken, seinerzeit so bewundert wurden. Die Biografie ist dort am interessantesten, wo sie Watts' künstlerische Karriere innerhalb der viktorianischen Kunstszene darstellt. Diese Karriere war geprägt durch eine Dichotomie: Zum einen gab es die Kunstöffentlichkeit, die Watts' Arbeiten in den Ausstellungen der Royal Academy oder der Grosvenor Gallery betrachtete. Auf der anderen Seite existierte ein kleiner Kreis von Förderern, die Watts von Beginn an unterstützten und der kulturellen Elite Englands angehörten. Es handelte sich um Mitglieder der Aristokratie (Lord und Lady Holland, Earl Somers, später auch der Duke of Westminster), zum anderen um Industrielle wie Alexander Ionides und Politiker wie William Gladstone. Die gleichzeitige Bewunderung sowohl der alten Eliten als auch der neuen Kunstöffentlichkeit war wohl die Ursache für Watts nationalen Erfolg. Am eindrücklichsten ist die Schilderung der künstlerischen Verbindung zwischen George Frederic Watts, Julia Margaret Cameron und Alfred Lord Tennyson. Der Maler, die Fotografin und der Dichter lebten zeitweilig in unmittelbarer Nachbarschaft auf der Isle of Wight, wo sie in selbst gewählter Abgeschiedenheit ihre Werke schufen. Der künstlerische Austausch zwischen Watts und Cameron ist bereits untersucht worden, wenn auch vornehmlich im Hinblick auf die wechselseitigen motivischen Anleihen. [3] Franklin Gould zeigt, wie intensiv diese intermediale Symbiose tatsächlich war; eine weitergehende Untersuchung dieses Aspektes wäre sicherlich höchst lohnenswert.

Das Buch, vom Paul Mellon Centre for Studies in British Art herausgegeben, ist im Übrigen hervorragend ausgestattet. Die zahlreichen Fotografien, die den Text begleiten, sind erwähnt worden. Alle Hauptwerke sind überdies in exzellenter Qualität farbig wiedergegeben, weitere Werke des Künstlers sowie Referenzwerke begleiten den Text.


Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu etwa: Andrew Wilton / Robert Upstone (Hrsg.) : Der Symbolismus in England 1860 - 1910, London 1998, Ausst.-Kat. London / Hamburg 1998. Darin insbesondere: Mary Anne Stevens: Der Symbolismus - ein französisches Monopol? 47-64.

[2] Vgl. dazu: Colin Trodd / Stephanie Brown: Representations of G.F. Watts: Art Making in Victorian Culture, Burlington 2004. (British Art and Visual Culture since 1750).

[3] Vgl. dazu: Julia Fagan-King: Cameron, Watts, Rossetti: The Influence of Photography on Painting, in: History of Photography. X (1986), 19 - 29.

Takuro Ito