Heike Amos: Die Entstehung der Verfassung in der Sowjetischen Besatzungszone / DDR 1946-1949. Darstellung und Dokumentation (= Diktatur und Widerstand; Bd. 12), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2006, 534 S., ISBN 978-3-8258-9126-8, EUR 39,90
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Wozu brauchte die SED eine Verfassung? Sollte mit der Verfassunggebung die Etablierung und Durchsetzung der diktatorischen Herrschaft in der SBZ/DDR kaschiert werden? Diesen und weiteren Fragen zur Entstehung der DDR-Verfassung von 1949 geht Heike Amos im vorliegenden Werk nach. Die Studie ruht auf einer breiten Quellenbasis: Amos, die bereits einige Monografien zur Geschichte der SED in den Fünfzigerjahren, zur West- sowie zur Justizpolitik vorgelegt hat, wertet erstmals systematisch die für das Thema einschlägigen Bestände im Bundesarchiv sowie in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO) aus. Das Buch besteht aus zwei Teilen, wobei die Darstellung rund 350 und die Dokumentation etwa 140 Seiten umfasst.
Die ersten Entwürfe, die Walter Ulbricht Anfang August 1946 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) überreichte, waren für Gesamtdeutschland konzipiert und gingen auf eine sowjetische Initiative zurück. Die östliche Besatzungsmacht verfolgte mit diesem Vorhaben mehrere Ziele: Aus deutschlandpolitischen Überlegungen heraus wollte Moskau erstens den Föderalismusbestrebungen der Amerikaner mit dem Konzept der Bildung eines zentralen deutschen Einheitsstaates begegnen. Zum Zweiten standen im Herbst 1946 Kommunal- und Landtagswahlen in der SBZ an, die es zu beeinflussen galt. Und schließlich sollte mit dem Verfassungsentwurf der in den Westzonen gleichzeitig begonnenen Verfassungsdebatte entgegengetreten werden. Auf diese Weise konnte die SED, ein aus sowjetischer Sicht durchaus intendierter Nebeneffekt, als erste deutsche Partei mit einem gesamtnationalen Gestaltungswillen in der Öffentlichkeit auftrumpfen. Amos bettet die Anfänge der ostdeutschen Verfassung zu Recht in die 1946 sich verschärfende Systemkonkurrenz zwischen den USA und der UdSSR, insbesondere zwischen den Westzonen und der SBZ ein. Die Verfassungsdiskussion erscheint somit auch als ein öffentlich ausgetragener Disput über die verfassungsrechtliche Deutungshoheit im Nachkriegsdeutschland.
Nur wenige ostdeutsche Politiker wirkten an der Ausarbeitung der ersten Entwürfe mit: Zu nennen sind in erster Linie die beiden Parteivorsitzenden der SED, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, sowie die innerhalb des Zentralsekretariats für Landespolitik zuständigen Spitzenfunktionäre Walter Ulbricht und Max Fechner. Die inhaltliche Arbeit leistete aber der SED-Rechtsexperte Karl Polak, der sowohl das deutsche als auch das sowjetische Rechtssystem bestens kannte. Damit besaß er ideale Voraussetzungen, um einen Verfassungsentwurf im Sinne von SMAD und SED auszuarbeiten. Der erste Entwurf einer "Verfassung der demokratischen Republik Deutschland" wurde in enger Absprache zwischen Polak und Ulbricht erarbeitet und orientierte sich in weiten Teilen an der Weimarer Reichsverfassung, um auch sozialdemokratische und bürgerliche Kreise in den drei Westzonen für den SED-Vorschlag gewinnen zu können. So fanden etwa die bürgerlichen Freiheitsrechte Eingang in den Verfassungstext. Der Entwurf enthielt zwar das Bekenntnis zur Einheitsschule, das Verbot von Privat- und Bekenntnisschulen und die strikte Trennung von Staat und Kirche. Zugleich wurde aber die Glaubens- und Gewissensfreiheit ausdrücklich gewährt. Obwohl die sowjetischen Änderungswünsche marginal blieben, kam es zunächst nicht zu der ursprünglich geplanten Veröffentlichung der Entwürfe. Nach Ansicht von Amos fiel in Moskau erst Ende November 1946 eine entsprechende Entscheidung auf höchster Ebene: Molotow und Stalin sprachen sich gemeinsam für eine Publikation aus, die bereits am 16. November 1946 im "Neuen Deutschland" erfolgte. Auch die Blockparteien CDU und LDP beteiligten sich an der Verfassungsdebatte; die Berliner CDU-Reichsgeschäftsstelle stellte sogar noch früher als die SED eigene verfassungspolitische Überlegungen an, die allerdings nicht zu einem in sich geschlossenen und vollständigen Verfassungsentwurf heranreiften.
Das Scheitern der Außenministerkonferenzen der vier Siegermächte und der Auszug des sowjetischen Vertreters aus dem Alliierten Kontrollrat am 20. März 1948 läuteten eine neue Phase der Verfassunggebung in der SBZ ein. Mit dem von ihr initiierten "Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden" hatte die SED mehrere Ziele verbunden. Zum einen sollte erneut eine parteiübergreifende Massenbewegung zur Herstellung der deutschen Einheit öffentlich wirksam suggeriert werden; zum zweiten hatte der Volkskongress eine weitere propagandistische Funktion, denn er sollte die deutschlandpolitischen Vorstellungen der Sowjetunion unterstützen. Drittens diente er zur Vorbereitung einer möglichen Separatstaatsbildung. Die personelle Zusammensetzung wurde nicht dem Zufall überlassen, sondern von der SED maßgeblich gelenkt. Sie sicherte sich die absolute Mehrheit der Sitze im Volkskongress, dessen wichtigste Aufgabe in der Wahl des Ersten Deutschen Volksrates bestand. Dieser wiederum wählte auf seiner ersten Sitzung am 19. März 1948 sechs Fachausschüsse, unter anderem einen Verfassungsausschuss. Amos zeichnet minuziös die Beratungen des Verfassungsausschusses nach, der von Otto Grotewohl geleitet wurde. Im Oktober 1948 lag ein erster vollständiger Verfassungsentwurf vor, der im Frühjahr 1949 nochmals überarbeitet wurde. Da die Verfassunggebung mit der Staatsgründung und Regierungsbildung zeitlich abgestimmt werden musste, konnte die Verfassung erst am 7. Oktober 1949 in Kraft treten. Amos gelangt zum Ergebnis, dass der Verfassungsentwurf vom Oktober 1948 einen Kompromiss darstellte zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen von SED und Blockparteien (349). Oberste Maxime war die Einbindung der bürgerlichen Parteien in den Staatsbildungsprozess. Dennoch gelang es der SED, der Verfassung in vielen zentralen Bereichen ihren Stempel aufzudrücken. Die Autorin verdeutlicht darüber hinaus die deutsch-deutschen Bezüge der Verfassungsdiskussion, indem sie immer wieder ausführlich auf die westdeutsche Entwicklung zu sprechen kommt. Auffallend ist ferner die inhaltliche Zurückhaltung der sowjetischen Besatzungsmacht, die letztlich nur den zeitlichen Ablaufplan festlegte.
Mit dieser Studie liegt nun eine profunde und kenntnisreiche Untersuchung vor, bei der die Kluft zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit zwar kurz angesprochen, aber nicht weiter vertiefend analysiert wird. In der Dokumentation befinden sich unter anderem zwei synoptische Gegenüberstellungen der einzelnen Verfassungsentwürfe, sodass die vorgenommenen inhaltlichen und sprachlichen Veränderungen sehr gut abgelesen werden können. Abschließend unternimmt die Autorin noch einen kurzen Ausblick auf die Entstehung der DDR-Verfassung von 1968, deren Vorarbeiten bis ins Jahr 1956 zurückreichen. Der XX. Parteitag der KPdSU beendete jedoch diese Debatte innerhalb der SED-Führung; ein ursprünglich vorgesehener Tagesordnungspunkt für die 3. SED-Parteikonferenz wurde ersatzlos gestrichen.
Dierk Hoffmann