Rezension über:

Peter Krüger: Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart: W. Kohlhammer 2006, 390 S., ISBN 978-3-17-016586-1, EUR 29,80
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Rezension von:
Daniel Göler
Institut für Europäische Politik, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Göler: Rezension von: Peter Krüger: Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union, Stuttgart: W. Kohlhammer 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/01/9935.html


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Peter Krüger: Das unberechenbare Europa

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Krüger untersucht in seiner interdisziplinär angelegten Studie "Das unberechenbare Europa" die wichtigsten geistesgeschichtlichen und politischen Stationen und Strömungen des europäischen Integrationsprozesses vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Sein Ausgangspunkt ist die Epoche der Aufklärung, die neben ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung auch ein "europäisches Wir-Gefühl" (24) hervorbrachte und einen "europäischen Kommunikationsraum" (33) entstehen ließ.

Die vielfachen europäischen Einigungsversuche wertet Krüger als beständiges Pendeln zwischen integrativen und hegemonialen Ansätzen. Als "erste umfassend konzipierte, ausgehandelte und verwirklichte Einrichtung einer akzeptierten Staatenordnung" (35) führt er den Wiener Kongress an, der zugleich eine Antwort auf den hegemonial-tyrannischen Einigungsversuch Napoleons darstellte. Neu war am Wiener Kongress vor allem die Einsicht, "dass für die Stabilität und politische Zusammenarbeit in Europa eine gewisse Homogenität der Regierungssysteme unentbehrlich sei" (36). Denn dort wurde nicht nur das Verhältnis zwischen den Staaten mitsamt der Etablierung des Konzerts der europäischen Großmächte geregelt, sondern die Teilnehmer wurden auch auf bestimmte interne Ordnungsstrukturen verpflichtet. Auch wenn die Stoßrichtung eine völlig andere war als heute und explizit gegen den Rechts- und Verfassungsstaat gerichtet war, blieb die Notwendigkeit innerstaatlicher Homogenität als Voraussetzung für Integration bis heute relevant. Ob allerdings - wie Krüger anführt - die Wiener Ordnung deshalb als "grundlegender Schritt europäischer Integration" (38) zu bewerten ist, bleibt kritisch zu sehen.

Überzeugend ist hingegen die These, dass die Idee des liberal-demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates, die mit der französischen Revolution Verbreitung fand und sich in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas durchsetzen konnte, in Verbindung mit dem Siegeszug des liberalen Wirtschaftssystems und der hierdurch bedingten zunehmenden ökonomischen Verflechtungen als Grundvoraussetzung für die weitere Integration angesehen werden kann (54). Denn Integration bedarf einer strukturellen Ähnlichkeit der zu integrierenden Objekte. Da sich sowohl die wirtschaftliche Liberalisierung als auch die Entwicklung des Rechts- und Verfassungsstaates zunächst im Rahmen der Nationalstaaten vollzogen, wird diesen eine weitaus positivere Rolle als sonst zugemessen und sie erscheinen nicht als Ab- oder Umweg, sondern als unverzichtbare Voraussetzung für den heutigen Integrationsprozess.

Dass es trotz zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung und Anpassung der internen Strukturprinzipien der europäischen Staaten zur Katastrophe zweier Weltkriege kommen konnte, führt Krüger darauf zurück, dass nicht das "Ob", sondern das "Wie" der Integration zu Beginn des 20. Jahrhunderts dadurch infrage gestellt wurde, dass die halbhegemoniale Stellung des Deutschen Reiches das europäische Konzert bzw. das damalige Gleichgewichtssystem gefährdete (102).

Trotz des unsäglichen Leids, das beide Kriege über Europa brachten, werden in ihnen doch auch Impulse für den weiteren Integrationsprozess gesehen: die definitive Abkehr von hegemonialen Einigungsversuchen, der endgültige Durchbruch des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates und die Überzeugung, nur gemeinsam als Europäer in einer neuen Weltordnung eine Rolle spielen zu können. Zudem führte die - zunächst durch die Aufrüstung und später durch den Wiederaufbau - enorm gestiegene Zuständigkeit des Staates (116 f.) dazu, dass europäische Einigung nur über die Nationalstaaten erfolgen konnte.

Dass die Auswirkungen der Weltkriege ihrer Struktur nach ähnlich waren, wird daran festgemacht, dass bereits in der Zwischenkriegszeit verstärkte Integrationsinitiativen zu beobachten waren. Allerdings wurden diese durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen, traten nach diesem aber umso stärker hervor, wobei Krüger die Kontinuität zwischen beiden "Epochen" auch an Protagonisten wie Monnet festmacht (174 ff.), der noch zu Kriegszeiten an der Entwicklung integrativer Strukturen in Europa (196) arbeitete.

Die Hauptgründe für den Erfolg der Integration nach dem Zweiten Weltkrieg werden in einer Fülle von günstigen internen und externen Faktoren gesehen. Für die Form der europäischen Einigung war hierbei bestimmend, dass dieser Phase der Integration die Wiederherstellung liberal-demokratisch strukturierter Nationalstaaten vorausging, die bis heute die entscheidenden Größen im Integrationsprozess sind. Dementsprechend konstatiert Krüger auch, dass "europäischer Zusammenschluss [...] keineswegs Verzicht auf Macht und Interessenpolitik [bedeutete], sondern ihre Überführung auf eine andere, gemeinsam geregelte multilaterale und daher Eskalation hemmende und Ausgleich fördernde Ebene" (162). Für ihn ist europäische Integration damit eine Weiterentwicklung des traditionellen europäischen Konzerts des 19. Jahrhunderts, wobei er den Europäischen Rat "im Grunde wie eine Verwirklichung der idealen Entwicklung des Europäischen Konzerts auf seinem höchsten erreichbaren Niveau" betrachtet (325). Hierin zeigt sich auch Krügers integrationspolitisches Grundverständnis der Präferierung einer staatenbündischen Konzeption, die sich in einer besonderen Wertschätzung intergouvernementaler Ansätze niederschlägt. So kommt er beispielsweise zu einer äußerst positiven Einschätzung der auf eine intergouvernementale Struktur angelegten Fouchet-Pläne (315), die so in der Literatur in der Regel nicht geteilt wird.

Auch in den weiteren Entwicklungstendenzen betont er die Rolle von Macht- und Gleichgewichtsdenken im europäischen Integrationsprozess. Dabei gewinnt man nicht selten den Eindruck einer Überbetonung der intergouvernementalen und Abwertung der supranationalen Elemente der EU. So steht Krüger beispielsweise der Ausweitung der Rechte des Europäischen Parlaments skeptisch gegenüber (365), erachtet die "kühne" Rechtsprechung des EuGH als Bedrohung für die Vielgestaltigkeit und Akzeptanz der EU (368) und sieht auch den Europäischen Verfassungsvertrag negativ, der seiner Einschätzung nach "an den wirklichen Interessen der Menschen und an einigen wichtigen Problemen der EU vorbeiging" (366).

Die Fokussierung auf die Interpretation der europäischen Integration als Weiterentwicklung des europäischen Konzerts kann allerdings zugleich auch als Schwäche der ansonsten sehr informativen Studie gesehen werden. Denn hierdurch entsteht die Tendenz, Kontinuitätslinien auch zu konstruieren, etwa wenn das Ruhrstatut als Vorläufer der Montanunion (217) oder die Fouchet-Pläne als Vorläufer von Maastricht (300) bezeichnet werden. Auch neigt Krüger zu einer teleologischen Betrachtung, die (etwas zu) viele Entwicklungen als Vorläufer der heutigen EU interpretiert. Trotz dieser Überbetonung seines Grundanliegens, die europäische Integration als kontinuierliche Weiterentwicklung des europäischen Konzerts darzustellen, ist die Studie von Krüger ein Gewinn, deren Verdienst es insbesondere ist, die in der traditionellen Forschung etwas vernachlässigten politischen und geistesgeschichtlichen Konvergenztendenzen vom 18. bis frühen 20. Jahrhundert informativ aufgezeigt und ihre Bedeutung für den heutigen Integrationsprozess herausgearbeitet zu haben.

Daniel Göler