Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 255 S., ISBN 978-3-525-36738-4, EUR 24,90
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Es gehört zu den Topoi der Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums, dass der Typus des Gelehrten mit besonderem Prestige behaftet war, während der Begriff des "Intellektuellen" zum Schimpfwort avancierte. In seinem neuen Buch über "Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit" leugnet Gangolf Hübinger ein solches Spannungsverhältnis nicht gänzlich, zeichnet aber in mehrerlei Hinsicht ein sehr viel differenzierteres Bild. Seine These lautet, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein spezifischer Typ des "Gelehrten-Intellektuellen" herausbildete, für den das öffentliche Wirken einen unmittelbaren Teil seines Gelehrten-Daseins darstellte.
Hübinger ist ausgewiesener Kenner der Gelehrten-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und versammelt in dem vorliegenden Band eine Reihe von bereits erschienenen Aufsätzen zu diesem Themenfeld. Neben der Sammlung dieser Beiträge besteht der besondere Wert des Bandes in einer Neuinterpretation des Verhältnisses von Gelehrtentum und Öffentlichkeit insgesamt, die sowohl in der Einleitung als auch in einem Schlusskapitel zum "Gelehrten-Intellektuellen im Strukturwandel der Öffentlichkeit" vorgenommen wird.
In seiner Einleitung erläutert Hübinger zunächst seinen Ansatz, Intellektuellen-, Wissenschafts- und Öffentlichkeitsgeschichte enger als bisher miteinander zu verzahnen. Dieser Ansatz erscheint in der Tat als unmittelbar einleuchtend, da Intellektuelle als Experten für Sinndeutung in dem Maße an Bedeutung gewannen, wie sich die Sinnangebote gerade im Zuge der Verwissenschaftlichung des ausgehenden 19. Jahrhunderts multiplizierten. Mit der Urbanisierung und Alphabetisierung, der Expansion und der Ausdifferenzierung des publizistischen Marktes veränderte sich zudem der öffentliche Raum so grundlegend, dass auch die wissenschaftlichen und intellektuellen Debatten davon kaum unberührt bleiben konnten. Hübinger weist in diesem Kontext einmal mehr Habermas' These zurück, dass dieser "Strukturwandel der Öffentlichkeit" zu einem Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit geführt habe. Stattdessen sieht er gerade in der lebhaften intellektuellen Auseinandersetzung dieser Zeit eine Fortsetzung der "bürgerlichen und bürgerkritischen Öffentlichkeit". Von einer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Intellektuellen verspricht sich Hübinger einen neuen Zugang zur Streitkultur der "säkularisierten und pluralisierungsfähigen Gesellschaften" Europas. Auch für Hübinger kommt dabei der Phase zwischen 1880 und 1930 als "Achsenzeit moderner Wissenschaft" eine besondere Bedeutung zu. Doch bettet er diese Phase in einen längeren Vorlauf ein und argumentiert zu Recht, dass die Figur des Gelehrten-Intellektuellen in Deutschland mindestens bis in den Vormärz zurückzuverfolgen ist.
In diesen Kontext ist seine Studie zu Gottfried Gervinus eingebettet. Gervinus wird hier als Prototyp des politischen Professors vorgestellt, der früh sein wissenschaftliches Werk mit öffentlichem Wirken verband und dafür neben Zustimmung auch Kritik und Unverständnis gerade unter Kollegen einstecken musste. Theodor Mommsen ist bereits von Christophe Charle aus französischer Perspektive als Vorreiter des kritischen Intellektuellen gesehen worden, dessen "Geburtsstunde" in der Regel auf die "Dreyfuss-Affäre" datiert wird. Ohne diese "Vorreiter-Frage" weiter zu diskutieren, hebt Hübinger für Mommsen hervor, dass er der Figur des Gelehrten-Politikers deutscher Prägung besondere Konturen verlieh. In einem Spannungsfeld zwischen der Welt des akribisch arbeitenden Gelehrten, seinem politischen Engagement, den tiefgreifenden Wandlungsprozessen von Politik und Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert und dem wie auch immer gearteten Strukturwandel der Öffentlichkeit, bemühte sich Mommsen darum, sein Lebenswerk weiter am "Einklang von historischer Orientierung und politischer Ordnung" auszurichten. Gelehrtentum und öffentliches Engagement flossen hier in geradezu exemplarischer Weise zusammen.
Die weiteren, durchweg lesenswerten Beiträge zu Max Weber und zu Ernst Troeltsch, zu Gustav Radbruch und Rudolf Hilferding sowie die weiteren, stärker systematisch ausgerichteten Artikel zur "politischen Wissenschaft im Historismus" und zu "Kulturgeschichte und Kapitalismus" kreisen prinzipiell um ähnliche Problematiken, ohne dass sich hier auf die Beiträge im Einzelnen eingehen ließe. Nicht ganz zu übersehen ist dabei, dass nicht alle Aufsätze tatsächlich genau auf die in der Einleitung entwickelte Problemstellung hingeschrieben sind, auch wenn sie grundsätzlich überall angerissen wird. So ist es sinnvoll, dass Hübinger in einem Schlusskapitel die in der Einleitung gelegten Fäden noch einmal aufnimmt und bündelt. Zuzustimmen ist Hübinger dabei in jedem Fall in der Aufforderung, die Rolle des Intellektuellen in die Analyse des Strukturwandels der Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhunderts und zu dessen Analyse weit stärker einzubeziehen als dies bisher geschieht. Hübinger skizziert dazu kurz die Expansion des publizistischen Massenmarktes und unterstreicht dessen Bedeutung. Hier ließe sich in der Analyse allerdings gewiss noch weiter gehen: Welche Auswirkungen der Aufstieg der Massenpresse und die Ausdifferenzierung des publizistischen Marktes konkret für die Popularisierung aber auch auf die Politisierung von Wissen auf der einen und die öffentliche Rolle des Gelehrten-Politikers und Intellektuellen auf der anderen Seite hatte, bedarf auch über die Jahrhundertwende hinaus noch eine Reihe weiterer Untersuchungen. Nicht zuletzt durch Verweis auf die "Frankfurter Schule", die "Gruppe 47" und den vermeintlichen "Tod des Intellektuellen" im Zuge der Aufstiegs der modernen Unterhaltungsindustrie deutet Hübinger an, dass die öffentliche Rolle der Gelehrten und Intellektuellen für die Struktur und die Verfasstheit der Öffentlichkeit bis heute ein wichtiges und fruchtbares Thema ist. Mit seinem Band hat Gangolf Hübinger hier wichtige Anstöße für die weitere Forschungen gegeben, die deutlich über die Einzelstudien hinausweisen.
Jörg Requate