Martin Weyer-von Schoultz: Max von Pettenkofer (1818-1901). Die Entstehung der modernen Hygiene aus den empirischen Studien menschlicher Lebensgrundlagen, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 287 S., ISBN 978-3-631-54119-7, EUR 39,80
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Der Autor dieser Lebensbeschreibung tritt trotz gegenteiligen Anspruchs über weite Strecken als ein Biograf alten Stils auf. Er glaubt, seinen Helden Max von Pettenkofer in ein gutes und weniger von dessen Wirken Begeisterte in ein schummriges Licht stellen zu müssen. Pettenkofers Nichtberücksichtigung in Enzyklopädien beklagt er, obwohl die einschlägigen Werke ihn durchaus verzeichnen, so NDB, DBE, Brockhaus, Meyer, Encyclopaedia Britannica und auch Wikipedia. Der etwas larmoyante Tonfall begegnet während der Lektüre immer wieder und führt zu schwer auflösbaren Widersprüchen. Einerseits ist von der "Verdrängung Max von Pettenkofers aus dem Gedächtnis von [sic] Wissenschafts- und speziell der Medizingeschichte" die Rede, schon im folgenden Satz heißt es aber andererseits, "man" begegne "Pettenkofer mit tiefer Skepsis" (7). Immerhin scheint man den "Geehrten" und "Geschmähten" (261) also wahrzunehmen. Jedenfalls war die Rezeptionsgeschichte mit dem Erscheinen der 5-DM-Sondermünze 1968 nicht abgeschlossen.
Dabei ist der - freilich keineswegs neue - Ansatz des Autors durchaus angemessen. Pettenkofer hat als Epidemiologe moderne statistische Methoden eingeführt, die Ausbreitung der Cholera aber nicht allein auf Bakterien, sondern in erster Linie auf die Boden- und Grundwasserbeschaffenheit zurückgeführt. Aus dem sich hieraus ergebenden Streit mit Robert Koch konnte Pettenkofer nicht als Sieger hervorgehen. Dennoch ist diese wissenschaftliche Kontroverse durchaus interessant, und auch deshalb beabsichtigt Weyer-von Schoultz, "Pettenkofers wissenschaftlichen Werdegang in den Kontext zeittypischer Wertvorstellungen, Dispositionen und Wahrnehmungen zu setzen und damit bislang unverstandene und als 'Irrwege' bezeichnete Entscheidungen und Überzeugungen des Hygienikers in ihrer wissenschaftsimmanenten - und nicht nur biografischen - Bedingtheit zu erschließen" (9 f.).
Vor allem aber zeichnet der Autor in einem engeren Sinne Pettenkofers Lebensweg nach. Dabei wird der Leser manchmal ratlos zurückgelassen. Ein früher Biograf habe behauptet, in der "freien Natur des Donaumooses" habe "es dem kleinen Max gar gut" gefallen. Heute sei jedoch "viel eher anzunehmen, dass Max in der väterlichen Landwirtschaft hart" habe "mitarbeiten" müssen (17). Zu Pettenkofers Philosophie-Studium wird spekuliert, "'moderne' Philosophen des Rangs [sic] eines Rousseau" seien ausgeklammert worden. In den Fußnoten, die unter anderem auf das "Dtv-Wörterbuch zur Geschichte" verweisen, findet man keine Begründung für diese Spekulation (21). Aufschlussreicher als solche Überlegungen ist die Präsentation bislang unpublizierter Quellen, etwa ein von Liebeskummer und Todessehnsucht zeugendes Gedicht des 19-Jährigen, das die emotionale Seite des ansonsten wenig schwärmerischen Wissenschaftlers beleuchtet (23).
Die Stärke des Buches liegt weniger in der Analyse als in der Aufbereitung von meist veröffentlichtem, aber nur mit Mühe vollständig zu sichtendem Material. Der Leser erfährt vor dem Hintergrund des berühmten Selbstversuchs, bei dem Pettenkofer einen Cocktail mit Cholerabakterien trank, von der "Selbstverständlichkeit", mit der bereits der "Promovend die Wirkungen von Substanzen an seinem eigenen Körper überprüfte" (29). Geschildert werden darüber hinaus unter anderem die Würzburger Entdeckung des Kreatinins durch Pettenkofer, die viel Beifall bei Justus von Liebig fand, sein Verfahren zur Trennung von Metallen, das dem bayerischen Staat große finanzielle Vorteile brachte, seine Methode zur Verzinkung von Eisendraht für die Telegrafie und seine zunächst weniger erfolgreichen Bemühungen zur Installation von Beleuchtungssystemen auf der Basis von Holzgas.
1853 wurde Pettenkofer ordentlicher Professor für medizinische Chemie an der Universität München. Fortan bemühte er sich nach den Auftragsarbeiten der vorangegangenen Jahre um einen im engeren Sinne wissenschaftlichen Schwerpunkt. Er fand diesen auf dem Gebiet der Gesundheitspflege, der Hygiene. Denn schon ein Jahr nach seiner Berufung breitete sich in München die Cholera aus. Innerhalb von zwei Monaten starben fast 3.000 Menschen. Pettenkofer bestritt nun nicht die Existenz eines Cholerakeims, auch nicht die Verbreitung der Krankheit "durch den Verkehr der Menschen", er vertrat aber darüber hinaus die Auffassung, "die Entwicklung der Epidemie" sei "von der Beschaffenheit des Bodens abhängig" (100). Die Bodentheorie machte Pettenkofer berühmt. Zugleich widmete er sich nach wie vor praktischen Aufgaben der Hygiene, so Ventilationsproblemen in Krankenhäusern und anderen Großgebäuden wie Museen.
1865 wurde Pettenkofer der erste ordentliche Professor für Hygiene in Deutschland, ebenfalls an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität. Massiv setzte er sich nun für eine moderne Wasserversorgung und Kanalisation ein, vernachlässigte aber immer mehr die von der Verschmutzung der Flüsse ausgehenden Gefahren. Seine Bodentheorie spitzte er angesichts der Kritik von Autoritäten wie Rudolf von Virchow zu, sodass er den Krankheitskeimen selbst nur noch wenig Beachtung schenkte. Jetzt spielten das Auf und Ab des Grundwasserspiegels und sogar Ausdünstungen (Miasmen) in Pettenkofers Theorie maßgebliche Rollen. Die Kollegen reagierten mit Hohn: "Wenn man das Steigen und Fallen der Curse an der Frankfurter Börse in einer Kurve auftragen würde, so könnte man [...] zu dem absurden Resultate kommen, dass nicht nur das Grundwasser, sondern auch die Frankfurter Curse Einfluss auf Krankheiten haben" (184).
Zu Recht widmet Weyer-von Schoultz diesen Debatten den größten Teil seines Buches. Die Hamburger Choleraepidemie von 1892, die - wie der Vergleich mit dem benachbarten Altona zeigt - in einem direkten Zusammenhang mit der Qualität der Wasserversorgung stand, verhalf dem bakteriologischen Erklärungsmodell zu seinem endgültigen Durchbruch. Pettenkofer aber behauptete noch drei Jahre später, zu der Epidemie wäre es auch gekommen, wenn die Hamburger "keinen Tropfen aus ihrem Leitungswasser getrunken hätten" (259). An dieser Stelle wird denn auch der sonst so wohlmeinende Biograf Weyer-von Schoultz kritisch: "Seine ungelenken Bemühungen, die bakteriologischen Erkenntnisse in seine Theorie einzubauen, machten ihn eher unglaubwürdig. [...] Er hatte nicht, wie er es von vielen seiner Gegner und Kritiker gefordert hatte, einmal aufgestellte Behauptungen und gezogenen Schlüsse im Angesicht neuer Forschungserkenntnisse relativiert oder revidiert, sondern diese hartnäckig [...] verteidigt und unverändert aufrecht gehalten (260).
Sprachlich kann die Arbeit nicht überzeugen. Auf unschöne Wiederholungen - schon in der Einleitung findet man in vier Zeilen dreimal das Wort "auch" (7); Pettenkofer zeigte sich von einer "Ehrung durch seine Heimatstadt geehrt" (267) - stößt man immer wieder. Ein Register fehlt. Dagegen werden dem Forscher ein keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebendes Schriftenverzeichnis, eine übersichtliche Chronologie und auch neunzehn Abbildungen aus Pettenkofers Leben nützlich sein.
Ralf Forsbach