Wolfgang Brückle: Civitas Terrena. Staatsrepräsentation und politischer Aristotelismus in der französischen Kunst 1270 - 1380 (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 124), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2005, 255 S., ISBN 978-3-422-06498-0, EUR 51,00
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Das Buch - die geringfügig ergänzte Fassung der im Jahr 2000 an der Universität Hamburg angenommenen kunsthistorischen Dissertation des Verfassers - behandelt die französische Kunst im Umfeld des Königshofs in Paris im späten 13. und 14. Jahrhundert. Im Unterschied zur Kunst der Hochgotik zwischen etwa 1140 und 1270 mit durchgreifenden Neuerungen in Architektur und Skulptur erscheint die Kunst im Zeitalter der rois maudits (1285-1328) - unter dem König Philipp dem Schönen und seinen Söhnen Ludwig X., Philipp V. und Karl IV. - und der nachfolgenden Könige aus dem Haus Valois retardiert, was den Stilwandel betrifft, und eher konservativ geprägt. [1] Während die Formen monarchischer Repräsentation bis zu König Ludwig IX. vor allem von Vorstellungen bestimmt waren, die den sakralen Charakter des Königtums anschaulich werden ließen, unterlag die herrscherliche Selbstdarstellung in den nachfolgenden Jahrzehnten bis zum Amtsantritt Karls VI. im Jahr 1380 einem grundlegenden Wandel, den Brückle im Sinn einer neuartigen "politischen Ikonographie" beschreibt, einer Ikonographie des Staatswesens, "die dessen im eigentlichen Sinn politischen, [...] gemäß Aristoteles von irdischen Zwecken geleitetem Charakter Ausdruck verleiht" (8). Parallel zu einer veränderten säkularen Staatstheorie sei auch eine neue politische Ikonographie für die Selbstdarstellung des französischen Königtums ausgeprägt worden.
Ursache dafür - so die These des Verfassers - war die Rezeption aristotelischer Staatstheorie durch Gelehrte der Pariser Universität: "erst mit dem Aristotelismus der Pariser Philosophie" entstehe "das Fundament einer offen propagandistisch ausgerichteten Kunstförderung seitens des Staates" (ebd.). Der Verfasser beschreibt die Bau- und Ausstattungsprojekte in und um Paris als Wirkungen und Spiegelungen eines intellektuellen Milieus. Die in der Staatstheorie des Aristoteles formulierte gesellschaftliche Bestimmung des Menschen und säkulare Konzeption des Staates habe zu einem veränderten Verständnis des Königtums geführt, das den König nun vornehmlich auf die irdischen Belange der Staatsführung verpflichtet habe: Das herrscherliche Amt habe sich in seinem Verhältnis zum Gemeinwohl legitimiert, in seiner Sorge um die civitas terrena. [2]
Nach einem kurzen Überblick zur Forschungslage erörtert Brückle zunächst die zeitliche Eingrenzung seines Themas und das grundsätzliche Problem monumentaler Repräsentation im Mittelalter; intellektuelle Tendenzen wie der verstärkte Nationalgedanke, zentralisierende Bestrebungen, Säkularisierung und die immer deutlichere Politisierung der Staatstheorie kennzeichneten das geistige Umfeld des Königshofs in Paris, das er anschließend skizziert (11-38). Brückle beschreibt dann die besondere Rolle von Paris als der neuen "Hauptstadt" des Königreichs mit dem neuerrichteten Palais de la cité (39-66) und behandelt verschiedene Beispiele einer in Bildwerken (etwa den denkmalartigen Montjoies) oder genalogischen Bildzyklen (wie jenem im Palais de la cité) ausgeprägten genealogischen Argumentation, die im Sinne der aristotelischen Staatstheorie Teil einer ethisch begründeten Herrschaftslegitimation war (67-89). Als herausragendes Fallbeispiel dient Brückle das von ihm neu interpretierte Bildprogramm der Dionysius-Vita von 1317. Die darin vorkommenden Bilder von Paris als einer civitas terrena erscheinen ihm als "unwillkürliche Zeugnisse einer Säkularisierungstendenz", die er auch in den staatstheoretischen Formulierungen der Paris-Beschreibung des Johannes von Jandun aus dem Jahr 1323 zu belegen sucht. Auch im Wandel vom "Stifterbildnis zum Staatsporträt" (124-166) sei diese wirksam gewesen. Gerade unter Karl V., für den der bedeutende Gelehrte Nicholas Oresme (1323-1382), seit 1377 Bischof von Lisieux, mehrere Aristoteles-Texte ins Französische übertragen hatte [3], ist die politisch-ethische Dimension des Herrscherramts als theoretische Voraussetzung solcher ikonographischer Konzeptionen deutlich.
Die These des Verfassers ist überzeugend. Zweifel bleiben bei der Lektüre des Buchs - gerade wegen der Konzentration neuartiger (staats-)allegorischer Bildformeln auf den Bereich illustrierter Handschriften ("Allegorie und Staatsallegorie", 221-230) -, ob die These gattungsübergreifend für alle postulierten Anwendungsbereiche gleichermaßen trägt. Stoff für kontroverse Diskussion birgt auch der Versuch Brückles, im abschließenden Kapitel ("Formenwandel in Frankreich", 200-230) "Entsprechungen in anderen Bereichen der Formenbildung französischer Kunst" als parallele Phänomene "anteilsweise aus denselben intellektuellen Ursachen" (230) zu beschreiben.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu auch den Forschungsbericht des Verfassers: Wolfgang Brückle: Revision der Hofkunst. Zur Frage historistischer Phänomene in der ausgehenden Kapetingerzeit und zum Problem des höfischen Pariser Stils, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), 404-434.
[2] Zum Bekanntwerden der politischen Theorie vgl. Christoph Flüeler: Rezeption und Interpretation der aristotelischen Politica im späten Mittelalter, Diss. phil. Bochum 1990, Amsterdam 1992 und ders.: Die Rezeption der "Politica" des Aristoteles an der Pariser Artistenfakultät im 13. und 14. Jahrhundert, in: Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, hrsg. von Jürgen Miethke, München 1992, 127-138.
[3] Zu den illustrierten Handschriften ausführlich: Claire Richter Sherman: Imaging Aristotle. Verbal and visual representation in fourteenth-century France, Berkeley 1995.
Wolfgang Augustyn