Markus Ritter: Moscheen und Madrasabauten in Iran 1785-1848. Architektur zwischen Rückgriff und Erneuerung (= Islamic History and Civilization. Studies and Texts; Vol. 62), Leiden / Boston: Brill 2006, xiv + 1001 S., 202 Tafeln, ISBN 978-90-04-14481-1, EUR 250,00
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Mit seinem Tausendseiter, einer 2003 vorgelegten Bamberger Dissertation, präsentiert Markus Ritter eine äußerlich wie inhaltlich gleichermaßen gewichtige Abhandlung, die einen bedeutenden Beitrag zur Kenntnis Irans in der Umbruchszeit des 18. und 19. Jahrhunderts darstellt und ein Standardwerk für die weitere diesbezügliche Forschung sein wird.
Der Verfasser untersucht die gesellschaftliche Entwicklung des Landes in der Zeit der frühen Qāǧārenherrschaft (1785-1848) anhand des zeitgenössischen Baubestands. Damit erschließt er der historischen Forschung eine in ihrer Bedeutung noch nicht ausreichend gewürdigte Quellengattung, die neue Einsichten in die gesellschaftliche Situation jener Epoche zu liefern verspricht. Zugleich unternimmt er, und hier liegt der eigentliche Schwerpunkt seiner Arbeit, eine baugeschichtliche Untersuchung zweier Gebäudetypen, der Moschee und der Madrasa (höhere Lehranstalt), die als öffentliche religiöse Kult- und Lehrgebäude meist von monumentalem Charakter und immer von öffentlichem Interesse begleitet waren. Mit ihrer reichhaltigen Datensammlung ist Ritters Arbeit vor allem auch für die Belange der Denkmalpflege von erheblichem Wert, denn die von ihm untersuchten und dokumentierten Bauten befinden sich auch heute noch in aktiver Nutzung und sind der Gefahr von Veränderung durch Renovierungen oder allgemeiner Beschädigung ausgesetzt.
Trotz erheblichen Umfangs und Materialdichte bleibt die Arbeit übersichtlich und klar strukturiert. Ein erster, analytischer Teil (1-537) präsentiert die historische Auswertung des faktischen Baubestands mit einer Einleitung, die Raum gibt für eine Erläuterung der methodischen Vorgehensweise und eine Zusammenstellung des der Untersuchung zugrundeliegenden schriftlichen Quellenmaterials (Kapitel 1); einer Darstellung des historischen Kontextes der Bautätigkeit, in welcher der Verfasser besonderes Augenmerk einerseits auf die zeitbedingten Motive für die Errichtung und Stiftung von Monumentalbauten, andererseits auf die genauen Auftraggeberkreise (überregionale Herrscher, lokale Herrscher, städtische Gelehrte, Kaufleute) legt (Kapitel 2); einer baugeschichtlichen Analyse jeweils einzelner Untergattungen von Moschee- und Madrasabauten (Kapitel 3-8); sowie einer Untersuchung der allgemeinen formalen Entwicklungen und stilistischen Merkmale bei den Bauten (Kapitel 9). Es folgt ein zweiter Teil mit einer Zusammenstellung des Datenmaterials in Gestalt eines ausführlichen Katalogs (541-913) sowie eines Bildteils mit insgesamt 202 teils farbigen Tafeln. Durch eine solche Abkoppelung der Materialsammlung vom analytischen Teil ist dankenswerterweise eine erheblich größere Übersichtlichkeit und Lesbarkeit des analytischen ersten Teils gewährleistet.
Für seine bautypologische Untersuchung kann Ritter sowohl auf offizielles Material der iranischen Denkmalforschung wie auch auf eigene Beobachtungen und Aufzeichnungen vor Ort zurückgreifen. Den hieraus sich ergebenden materiellen Befund unterzieht er dann einer eingehenden historischen Kontextualisierung, in welcher er die gesellschaftspolitischen Hintergründe von Bautätigkeit, die Zweckbestimmung der einzelnen Bauten und die hinter ihnen stehenden Auftraggeberkreise beleuchtet. Dafür zieht er, den baulichen Befund ergänzend, weitere verfügbare textliche Quellen wie Bauinschriften, Stiftungstexte, qāǧārenzeitliche Geschichtswerke, zeitgenössische europäische Reiseberichte sowie neuzeitliche persischsprachige Literatur zur Stadtgeschichte heran. Hierbei wird deutlich, wie sehr die behandelten öffentlichen Monumentalbauten Ausdrucksformen der hinter ihnen stehenden gesellschaftspolitischen Interessenlagen waren, und wie unverkennbar ihr architektonischer Wandel in Analogie zum gesellschaftlichen Wandel der sie hervorbringenden Zeit stand. Aufgrund ihres immer öffentlichen und damit auch politischen Charakters sind die Bauwerke somit Spiegel der jeweils faktischen Machtverhältnisse wie auch politischen Wunschvorstellungen ihrer Epoche.
Mithilfe formal beschreibender Analysen zeigt der Verfasser die widersprüchlichen formalen und ästhetischen Tendenzen in der architektonischen Entwicklung frühqāǧārischer Bauten auf: Während einerseits an bewährten safavidenzeitlichen Mustern festgehalten wurde, gab es andererseits auch eine Entwicklung zu neuen Formen und der verstärkten Berücksichtigung lokaler Traditionen. Dies findet seine unmittelbare Entsprechung in der zeitgleichen gesellschaftlichen Entwicklung, die von einer Neubegründung zentraler monarchischer Herrschaft (nach einem unruhigen 18. Jahrhundert) einerseits und dem parallelen Erstarken städtischer und religiöser Eliten andererseits geprägt war. Unterschiedliche Auftraggeberkreise bevorzugten unterschiedliche künstlerische Manifestationen, weshalb ein Festhalten an alten Schemata bei solchen Bauten zu erkennen ist, die im herrscherlichen Auftrag errichtet wurden, während Neuerungen und regionale Eigenständigkeiten sich bei denjenigen finden, die auf die Initiative selbstbewussterer städtischer Eliten zurückgingen.
Aber nicht nur der Nutzen für die historische Forschung macht die besondere Bedeutung dieser Architektur aus. Vielmehr argumentiert der Verfasser gerade auch in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht überzeugend für eine Aufwertung des "späten" islamischen Bauwesens im 18. und frühen 19. Jahrhundert und warnt vor einem Festhalten an mittlerweile überholten Niedergangsvorstellungen gerade auch im Bereich der islamischen Kunst. Die Bautätigkeit unter den frühen Qāǧāren muss Markus Ritter zufolge den Zeitgenossen als eine neue Blütezeit, durchaus auch im Sinne von künstlerischer Qualität (und nicht nur Quantität) erschienen sein. Demnach wäre das Festhalten an überkommenen safavidenzeitlichen Traditionen nicht als Erstrarrung, der Mut zu Neuerungen nicht als ideenlose Adaption europäischer Vorbilder zu verstehen; vielmehr sind sie als den jeweiligen zeitbedingten Erfordernissen Rechnung tragende und eigenen ästhetischen Richtlinien folgende innovative Maßnahmen aus sich selbst heraus zu begreifen und zu würdigen. Es ist nicht einer Kunstepoche selbst, sondern vielmehr ihrer akademischen Vernachlässigung anzulasten, wenn ihr Potential derart unterschätzt und die ihr eigene Mischung aus Tradition, Neubeginn und Veränderung so sehr übersehen werden konnte.
Neben den inhaltlichen Vorzügen dieser Arbeit soll aber auch ihre äußere Aufmachung Würdigung finden. Der Text unterlag einer sorgfältigen Redaktion, Druckfehler fielen beim Lesen nicht weiter ins Auge. Die übersichtliche Strukturierung des umfangreichen Werks zeugt von der didaktischen Umsicht des Autors und seinem Gespür für die Bedürfnisse des Lesers. In diesem Zusammenhang ist auch die klare Sprache zu erwähnen, die die Lektüre zu einem Vergnügen macht, die aber bei den vielschichtigen und komplexen Sachverhalten des in dieser Arbeit behandelten Stoffes ganz sicher keine Selbstverständlichkeit sein dürfte.
Lucian Reinfandt