Verein Aktives Museum (Hg.): Vor die Tür gesetzt. Im Nationalsozialismus verfolgte Berliner Stadtverordnete und Magistratsmitglieder 1933-1945, Berlin: Verein Aktives Museum 2006, 416 S., ISBN 978-3-00-018931-9, EUR 15,00
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Darf ein DNVP- oder NSDAP-Mitglied in einem Gedenkbuch für Verfolgte seinen Platz finden? Folgt man den einleitenden Worten des Buches "Vor die Tür gesetzt", welches das Schicksal der Stadtverordneten und Magistratsmitglieder von Berlin dokumentiert, die in den Jahren 1933 bis 1945 verfolgt wurden, besteht dafür kein prinzipieller Hinderungsgrund. Die Vorsitzende des Vereins Aktives Museum, der für die Publikation verantwortlich zeichnet, erklärt in der Einleitung: "Es geht also zunächst einmal um die sachliche Dokumentation historischer Fakten, nicht aber um eine moralische Bewertung unterschiedlicher Gründe und Grade der Verfolgung [...]" (10). Es ist deshalb auch konsequent, dass kein "Gedenk-Buch" vorliegt, sondern ein "Denk-Buch" - ein Denk-Buch, das auch (insgesamt wenige) Personen aufführt, die der nationalsozialistischen Herrschaft, in welcher Form auch immer, Vorschub geleistet haben.
Wer den Sachverhalt nüchtern betrachtet, kann sich dieser Argumentation nicht verschließen. Auch eine Person, die vor 1933 einer antidemokratischen Partei - sei es im linken oder rechten politischen Spektrum - oder nach 1933 der NSDAP angehört hat, kann Aufnahme in eine solche Dokumentation finden, wenn sich ein Opferschicksal eindeutig nachweisen lässt. Allerdings müssen dann strenge Maßstäbe angelegt werden: Es muss sich in diesem Fall um ein wirklich gravierendes Opferschicksal handeln. Dieser Voraussetzung wird der vorliegende Band nicht immer gerecht. Das hat damit zu tun, dass als Kriterium für Verfolgung der "kleinste gemeinsame Nenner" gewählt wurde: der Mandatsverlust und der Entzug der Wirkungsmöglichkeiten in einem demokratisch gewählten Parlament (10).
Für Vertreter demokratischer Parteien birgt dieser Maßstab keine Gefahren. Doch für Mitglieder antidemokratischer Parteien sieht die Sache anders aus: So zählen beispielsweise Ehrentraut Jahr, Asta Rötger und Hildegard Wetzel zu den Verfolgten. Sie alle gehörten der DNVP beziehungsweise - nach den Neuwahlen zur Stadtverordnetenversammlung im März 1933 - der "Kampffront Schwarz-Weiß-Rot" an. Ihre Kurzbiografien schließen jeweils mit den Worten: "Im Oktober 1933 wurden die Männer der Kampffront in die Fraktion der NSDAP aufgenommen. Den weiblichen Stadtverordneten hingegen wurde ihr Mandat entzogen, da die Nationalsozialisten Frauen nicht länger in Gemeindevertretungen und anderen Parlamenten duldeten." (239, 324, ähnlich 373). In keinem dieser Fälle handelt es sich um eine bedrohliche individuelle Verfolgung. Keine dieser Frauen hat ein schweres Schicksal erlitten.
Oder ein anderes Beispiel: Auch Max Buchwitz, August Döring und Erich Hartmann wurden in die Liste der Verfolgten aufgenommen. Sie alle gehörten der DNVP beziehungsweise der "Kampffront Schwarz-Weiß-Rot" an und verloren 1935 ihre Ämter, weil sie nicht zur NSDAP übergetreten waren (159-160, 172, 215-216). Das ist sicher erwähnenswert, doch keiner von ihnen war jemals inhaftiert oder hat einen erheblichen beruflichen und wirtschaftlichen Schaden erlitten. Das Kriterium für Verfolgung, das diesem "Denk-Buch" zugrunde liegt, ist in ihren Fällen zu weit gefasst. Gewiss ist es löblich, wenn ein Kriterium einheitlich angewandt wird, aber manchmal bedarf es einer zusätzlichen moralischen - und dann eben auch subjektiven - Beurteilung.
Diese kritischen Worte sollen allerdings keinen falschen Eindruck entstehen lassen, denn insgesamt ist dem Verein Aktives Museum ein hervorragendes Werk gelungen. Und das in mehrfacher Hinsicht: Die 419 Kurzbiografien - darunter so bekannte Namen wie Theodor Heuss, Bernhard Lichtenberg, Ernst Reuter und Wilhelm Pieck - sind gut geschrieben, die einleitenden Aufsätze (35-112) fassen die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchungen zusammen, und auch optisch ist der Band sehr ansprechend gestaltet. Zahlreiche Bilder runden die Beiträge in gelungener Weise ab. Das gilt auch für das Literaturverzeichnis, das viele einschlägige Veröffentlichungen nennt, zum Beispiel die wegweisenden Arbeiten von Martin Schumacher und Wilhelm Heinz Schröder oder das "Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933". Hilfreich ist zudem ein Glossar, auch wenn hier manche Beiträge banal anmuten.
Sehr lobenswert ist die breite Quellenbasis: Unter anderem wurden einschlägige Bestände des Bundesarchivs, des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, des Landesarchivs Berlin und des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts herangezogen. Dabei ist auch hervorzuheben, dass den Studien Wiedergutmachungsakten zugrunde liegen, die das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin verwahrt. Selbst die Ergebnisse der Entschädigungs- und Rückerstattungsverfahren wurden in den Kurzbiografien jeweils vermerkt.
Eine kritische Bemerkung sei aber an dieser Stelle noch erlaubt: Besonders wichtig bei einer solchen Veröffentlichung ist doch, dass das Verfolgtenschicksal eindeutig belegt werden kann. Wenn die entsprechenden Belege vorhanden sind, sollten sie auch kenntlich gemacht werden. Zwar kann bei Bedarf eine CD mit Quellenbelegen angefordert werden (137), aber aus welchen Gründen sollte man auf einen Anmerkungsapparat verzichten? Die "bessere Lesbarkeit" (137) kann dafür kein Motiv sein, denn die Quellen sind das Substrat einer solchen Arbeit. Sie in jedem einzelnen Fall kenntlich zu machen, hat auch einen weiteren Vorteil: Der Leser sieht auf einen Blick, wie arbeitsintensiv und mühselig die Tätigkeit des Historikers sein kann. Und in dieser Hinsicht muss sich die Arbeitsgruppe, die für dieses Werk verantwortlich zeichnet, mit Sicherheit nicht verstecken.
Gut gelöst wurde im Übrigen auch das Problem der Personen, deren Verfolgung zwar wahrscheinlich, aber nicht eindeutig belegt ist; man hat sie nicht einfach unter den Tisch fallen lassen, sondern in einer gesonderten Liste aufgeführt.
Lobenswert ist allerdings nicht nur die Publikation. Das Projekt über die verfolgten Stadtverordneten und Magistratsmitglieder von Berlin begann Mitte der Achtzigerjahre. Die Initiative ging von der Fraktion der Alternativen Liste im Abgeordnetenhaus aus. Die Rechercheergebnisse konnten jedoch Ende der Achtzigerjahre, aus welchen Gründen auch immer, nur als Drucksache des Abgeordnetenhauses veröffentlicht werden. 2003 beauftragten der Senat und das Abgeordnetenhaus von Berlin den Verein Aktives Museum, zum 60. Jahrestag des Kriegsendes eine Ausstellung und ein Gedenkbuch zu erarbeiten. Dafür wurde auch auf die Vorarbeiten aus den Achtzigerjahren zurückgegriffen. Die Ausstellung wurde 2005 zunächst im Berliner Rathaus, 2006 dann auch im Abgeordnetenhaus gezeigt. Sie dokumentierte Verfolgtenschicksale anhand von 32 ausgewählten Personen. 2000 war bereits eine Gedenktafel im Berliner Rathaus angebracht worden. Einem allgemeinen Text folgen die Namen der ermordeten Stadtverordneten und Magistratsmitglieder mit einigen weiteren Angaben. Die Gedenktafel wurde mehrfach ergänzt, unter anderem um die Personen, die im sowjetischen Exil Opfer stalinistischer 'Säuberungen' wurden. Weitere Informationen liefert ein EDV-Terminal.
Die Verfolgtendokumentation "Vor die Tür gesetzt" umfasst also eine Ausstellung, eine Gedenktafel, ein Terminal und ein Gedenk-Buch beziehungsweise Denk-Buch. Mit diesen verschiedenen Formen der Erinnerung wurde dem berechtigten Anliegen, die Verfolgten zu ehren, angemessen Rechnung getragen. Das wichtigste Teilstück ist aber die Publikation, die nicht nur kostengünstig ist und dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte einem breiteren Publikum nahe bringen wird, sondern auch in vieler Hinsicht Vorbildcharakter für ähnliche Projekte besitzt.
Tim Szatkowski