Rezension über:

Tristan Weddigen: Raffaels Papageienzimmer. Ritual, Raumfunktion und Dekoration im Vatikanpalast der Renaissance, Emsdetten / Berlin: edition imorde 2006, 335 S., 200 Abb., ISBN 978-3-9809436-2-8, EUR 59,00
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Rezension von:
Philipp Zitzlsperger
Kunstgeschichtliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Philipp Zitzlsperger: Rezension von: Tristan Weddigen: Raffaels Papageienzimmer. Ritual, Raumfunktion und Dekoration im Vatikanpalast der Renaissance, Emsdetten / Berlin: edition imorde 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/12756.html


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Tristan Weddigen: Raffaels Papageienzimmer

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Der Papst übt nicht nur das sakrale Amt des Glaubenshüters, sondern auch das säkulare des Souveräns eines Kirchenstaates aus. Allein mit Glaubensinhalten ist ein Staat eben nicht zu lenken. Dieses Axiom hat sich in der Romforschung weitgehend durchgesetzt. Die römische Kunstproduktion der Frühneuzeit entfaltete sich folglich im Spannungsfeld zwischen christlicher und politischer Ikonographie und leistete ihren gestaltenden (nicht reflektierenden) Beitrag zur weltlichen und geistlichen Machtausübung des Papstes. Für die Stanzen Raffaels im Vatikan wurde diese Verflechtung von Staat, Glaube und Kunst der römischen Renaissance in zahlreichen Studien bereits instruktiv untersucht. Für das benachbarte Papageienzimmer, das ursprünglich ebenfalls von Raffael ausgestaltet worden war, ist die Forschung bislang über Andeutungen nicht hinausgekommen. Es war also höchste Zeit, diesem bislang unterschätzten Raum erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken, was Tristan Weddigen in seiner methodisch ebenso vielseitigen wie verdienstvollen Dissertation getan hat. Sie ist 2006 in der bibliophilen Edition Imorde erschienen.

Die Dissertation widmet sich der umfangreichen Analyse des so genannten Papageienzimmers im Vatikanpalast, dessen exotische Bezeichnung vermutlich von dem Papageiendekor des Raumes aus dem 13. und 15. Jahrhundert herzuleiten ist. Unter Leo X. de' Medici (1513-1521) erhielt das Papageienzimmer um 1518 eine komplette Neuausstattung durch Raffael und seine Werkstatt. Diese ist heute nur noch fragmentarisch erhalten, da in der Folgezeit unter drei Päpsten zwischen 1555-1585 einschneidende Veränderungen an Grundriss und Ausstattung vorgenommen wurden. Auf die Rekonstruktion ihres ursprünglichen Zustands von 1518 ist ein Schwerpunkt der Studie gelegt. Die camera papagalli ist über die Dekoration Raffaels hinaus auch deswegen bedeutend, weil sie eine räumliche Gelenkstelle des Zeremoniells darstellte. Sie war zeremonieller Ankleideraum des Papstes ("praeparatio ad missam pontificalem") - mit dazugehörigem Paramentbett - und Tagungsort des Geheimkonsistoriums, also der Zusammenkunft von Papst und Kardinalskollegium unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Und sie war im südöstlichen Anschluss an die Sala di Costantino der Schlusspunkt einer Enfilade von mehr oder weniger öffentlichen Räumen. Nach dem Papageienzimmer folgten die 'privaten' Gemächer des Papstes ('anticamera' und 'camera secreta'), an denen auch der Kompetenzbereich des Zeremonienmeisters endete. Die Raumfunktion stellt in Weddigens Untersuchung den zweiten Schwerpunkt dar und ist der Schlüssel zur Ikonologie der Raffaelausstattung.

Die Schlüsselrolle der Raumfunktion für die Deutung des Ausstattungsprogramms ausführlich zu erläutern, damit beginnt Weddigen und definiert seine Methode. Zu Recht begreift er den Raum als sozialdifferenzierende Instanz. Hierfür werden zahlreiche Hinweise aus den Nachlässen der päpstlichen Zeremonienmeister Agostino Patrizi Piccolomini (gestorben 1494), Johannes Burckard (gestorben 1506) und Paride de Grassi (gestorben 1528) angeführt. Diese Pioniere der verschriftlichten Zeremonialkultur betonten selbst, dass Zeremoniell wie Liturgie gleichermaßen politische Werte vermitteln, die gesellschaftliche Hierarchien widerspiegeln (25). Dass auch die bildende Kunst als normative Kraft den Raum choreographisch prägt, wird schließlich zur Einstimmung des Lesers exemplarisch an Raffaels Fresken in den vatikanischen Stanzen über den bisherigen Forschungsstand hinaus deutlich gemacht: Diese rezipieren und konstruieren rituelle Symbole und ästhetische Gesellschaftsmodelle (51-58). "Zeremoniell eingebundene Kunst begnügt sich nicht mit der Darstellung und Duplizierung von Macht und Realität, sondern hilft, diese erst zu konstruieren, weswegen man nicht von einem 'mimetischen' sondern 'performativen' Bildbegriff sprechen müßte." (51). Der Künstler wird aus dieser Perspektive zum Schöpfer einer bisweilen ideellen Hof- und Weltordnung, die im Bild jedoch nicht retrospektiv etwas Erreichtes, sondern prospektiv etwas zu Erreichendes vermittelt. Anders gesprochen: Bildwerke wandeln sich von passiven Medien in aktive, in das Selbst-Bewusst-Werden eingreifende und alle Sphären mitprägende Instanzen.

Im Theoretischen ist das leicht gesagt. Doch für die Interpretation frühneuzeitlicher Kunst ist der symbolisch-rituelle Gehalt der Bilder auf Uneindeutigkeit angelegt; darauf verweist Weddigen ausdrücklich (43). Die Macht des Symbolischen liegt allgemein in der Uneindeutigkeit des Symbols, das Werte und Normen versinnbildlicht, aber eben nicht explizit benennt. [1] Die Polyvalenz ist eine spezifische Leistung symbolischer Kommunikation, die für die Stiftung stabiler sozialer Ordnungsstrukturen unerlässlich ist. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sich in Münster seit Anfang 2000 ein interdisziplinärer Forschungsverbund mit eben dieser Frage beschäftigt, wie gesellschaftliche Wertesysteme durch symbolische Kommunikation manifestiert, visualisiert und verändert wurden. [2] Dazu leistet die Arbeit von Weddigen unwillkürlich einen wichtigen Beitrag, denn sie versucht auf überzeugende Weise, die vielschichtige Sinnstiftung des Symbolischen für die Ausstattung des Papageienzimmers stark zu machen.

Die von Weddigen akribisch und kennerschaftlich kompetent rekonstruierte Ausstattung des Papageienzimmers von 1518 ist im Wesentlichen eine architektonische Illusionsmalerei, die ein Peristyl ohne Umgang suggeriert, in dessen Interkolumnien sich freskierte Skulpturen befinden, die in Rechtecknischen, von Ädikulen gerahmt, stehen. Viele von ihnen sind heute noch im Original erhalten, einige ergänzt oder später vollkommen neu hinzugekommen. Neben den von Vasari bezeugten, heute verlorenen Dekorationsmotiven aus Flora und Fauna interessiert vor allem das gemalte, ursprüngliche Skulpturenprogramm. Es handelte sich dabei um eine Auswahl von Aposteln, den vier Evangelisten, und drei bis vier weiteren Heiligen (215-240). Weddigen kann überzeugend nachweisen, dass ihre bildliche Zusammenkunft auf das päpstliche Ankleidungszeremoniell und die Pontifikalliturgie ebenso abgestimmt war wie die Protagonisten auch als Schutzheilige des Medicipapstes, seiner Familie und von Florenz auszumachen sind. Über das leoninische Programm hinaus alludiert die Ansammlung der vier Evangelisten und der Apostel zudem auf die Johannesapokalypse und nimmt direkten Bezug auf die Funktion des Papageienzimmers (245-247): Die Zusammenkunft der Kardinäle als Heiliger Senat wurde von den genannten Zeremonienmeistern mit der Offenbarung des Johannes verglichen, bei der die 24 Ältesten dem Weltenrichter assistieren, dessen Thron von den vier Evangelisten mit ihren Tiersymbolen umgeben ist. Ganz in typologischer Tradition verweisen die 24 Ältesten auf die Ur-Kirchenordnung unter dem Vorsitz Petri ("pasces oves meas") und der übrigen Apostel, die ihr Äquivalent in der leiblichen Anwesenheit der Kardinäle des Geheimkonsistoriums finden. Der von Raffael gewählte Typus des peristylartigen Skulpturenhofes und sein innovativer Figurenstil, der bis zu Camillo Rusconi in den späten römischen Barock ausstrahlen sollte, leisteten ihren kongenialen Beitrag zur doppelten Raumfunktion und den persönlichen Bedürfnissen des Auftraggebers.

So überzeugend die Deutung des Papageienzimmers ist - sie hätte zusätzliche Überzeugungskraft gewonnen, wenn der gesamten Studie eine andere Gliederung zu Grunde gelegt worden wäre. Denn warum die Rekonstruktion, Beschreibung und kunsthistorische Würdigung der Raumausstattung des Papageienzimmers mit anschließender Deutung die zweite und nicht die erste Hälfte des Buches einnimmt, erschließt sich dem Leser nicht. Statt die Besonderheiten von Form und Inhalt der Ausstattung zum Ausgangspunkt zu nehmen, um schließlich daraus seine ikonologische Methode zu entwickeln und die zeremonielle Raumfunktion zu integrieren, verfährt der Autor umgekehrt und macht dadurch einige Redundanzen im Text unvermeidlich. Die Kunstgeschichte hat bisher immer gut daran getan, sich zuerst dem Objekt zu nähern und an ihm die methodischen Probleme zu differenzieren, um auf dieser Basis die Deutungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Besondere Erwähnung verdient abschließend die verlegerische Form des Buches. Denn präsentiert werden die kenntnisreichen Ausführungen in einer vollkommen ungewohnten und eigenwilligen Weise: Während der Fließtext im aufgeschlagenen Zustand des großformatigen Buches ausschließlich auf der rechten Seite zweispaltig verläuft, ist die linke Seite allein den Abbildungen und Anmerkungen (ebenfalls zweispaltig) vorbehalten. Das ist eine reizvolle Idee. Ob sie Schule machen wird, bleibt abzuwarten. Denn ganz ohne ästhetische und praktische Einbußen ließ sich das Konzept nicht durchhalten. Häufig füllt der Anmerkungsapparat die linke Seite nicht aus, so dass sie bisweilen halb leer das optische Gleichgewicht einer Doppelseite empfindlich stört. Darüber hinaus sind die Schwarz-Weiß-Abbildungen, um in die Spalte zu passen, in zahlreichen Fällen zu klein geraten, weshalb wichtige Details, die im Text besprochen werden, oft nicht zu sehen sind.

Insgesamt ist das Buch eine große Bereicherung für die Renaissance-, Italien- und insbesondere Romforschung. Die umfassenden Recherchen verleihen ihm im positiven Sinne einen Handbuchcharakter. Für die kunsthistorische Zeremonialforschung kann es auch als Nachschlagewerk dienlich sein, wofür über das Namensregister hinaus zusätzlich ein Sachregister wünschenswert gewesen wäre (umso erfreulicher ist im Anhang die vollständige Transkription und Übersetzung der "praeparatio ad missam pontificalem" von 1520). Aber vor allem stellt die Studie eine weitere wichtige Etappe dar in der immer noch sehr lückenhaften Erforschung des vatikanischen Palastes vor dem Hintergrund seiner Raumfunktionen der verschiedenen Jahrhunderte.


Anmerkungen:

[1] Vgl. hierzu bereits Ernst H. Gombrich: Ziele und Grenzen der Ikonologie (1972), in: Ikonographie und Ikonologie. Bildende Kunst als Zeichensystem, Bd. 1, hg. von Ekkehard Kaemmerling, Köln 1991, 377-433, hier 406-407.

[2] Über die Inhalte und Methoden des Forschungsprojektes vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe - Thesen - Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung, 31, 2004, 489-527.

Philipp Zitzlsperger