Geoffrey P. Megargee: Hitler und die Generäle. Das Ringen um die Führung der Wehrmacht 1933-1945. Mit einem Vorwort von Williamson Murray. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karl Nicolai, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, XXIV + 306 S., ISBN 978-3-506-75633-6, EUR 34,90
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Während man die Wehrmacht in Deutschland heute nur mehr unter der Perspektive moralischer Verantwortung und Versagens sieht und beurteilt, werden ihre militärischen Erfolge von den ehemaligen Kriegsgegnern nach wie vor bewundert und gelten als Musterbeispiele einer fortschrittlichen operativen Kriegführung. Als einer der Gründe wird immer wieder die Überlegenheit des deutsche Stabssystems im Allgemeinen und des Generalstabs, also des Oberkommandos, im Besonderen genannt. [1] Wie so häufig driften auch hier Mythos, Halbwahrheit und Wahrheit bisweilen auseinander. Das vorliegende Buch ist eine Übersetzung der 2000 erschienenen Studie "Inside Hitler's High Command" des amerikanischen Militärhistorikers Geoffrey P. Megargee und nimmt sich genau jenes Themas an. Im Vorwort spricht der Autor davon, lediglich eine Synthese der Sekundärliteratur - angereichert durch Primärquellen aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv -liefern zu wollen und "gewiss keine völlig neue Deutung des Krieges insgesamt" zu bieten (XX). Die Zielsetzung ist also bescheiden, doch merkt der Leser bereits nach wenigen Seiten, das Werk eines echten Kenners der Materie in Händen zu halten.
Megargee untersucht das Oberkommando des Heeres (OKH) und das Oberkommando der Wehrmacht (OKW), also die Spitze des deutschen Militärapparats von 1933 bis 1945, das die erfolgreichen Feldzüge in der ersten Kriegshälfte plante und die Defensivkämpfe ab 1942/43 steuerte. Es war vor allem aber auch das militärische Umfeld, das Hitler beriet und in dem der Diktator seine operativen und strategischen Entscheidungen traf. Im Gegensatz zu einer bis heute weit verbreitenden Meinung war laut Megargee die Wehrmachtführung nicht der Grund für die deutschen militärischen Erfolge, sondern sie wurden trotz der Schwächen dieses Systems errungen.
Es ist sicherlich keine Neuigkeit, auf die verworrenen Befehlsverhältnisse und Rivalitäten von OKH und OKW hinzuweisen, doch gebührt Megargee das Verdienst, diese Spannungen präzise zu analysieren und sie dem Leser anschaulich darzustellen. Diese Rivalitäten gingen schon auf die Vorgängerorganisationen - wenngleich unter anderen politischen Vorzeichen - vor 1933 zurück. Stets beanspruchte das Heer aufgrund Deutschlands geostrategischer Lage im Zentrum Europas eine bevorzugte Rolle gegenüber der Marine und übergeordneten oder beigeordneten Instanzen, namentlich des Ministeramts im Reichswehrministerium, das nach 1933 in Wehrmachtamt umbenannt wurde und 1938 in das OKW umgewandelt wurde. Bis weit in den Krieg hinein blieb unklar, wer die strategische Marschroute festlegte: Das Heer als wichtigste Teilstreitkraft oder das OKW, das allerdings nur mit einem sehr kleinen Stabsapparat ausgestattet war. Bekanntlich konzentrierte sich das OKH ab 1941/42 nur noch auf die Ostfront, während das OKW sukzessive das Kommando über die anderen Kriegsschauplätze übernahm.
Insgesamt identifiziert Megargee vier Schwächen des deutschen Oberkommandos (sprich des OKH und des OKW): Erstens eine politische, denn das Heer wich stets einer Konfrontation mit Hitler in diesem Bereich aus. Zweitens eine strategische: Das Heer überließ Hitler auch dieses Feld ohne großes Aufhebens. Zu Recht weißt der Autor auf die lange deutsche Militärtradition hin, wonach man strategische Schwächen durch meisterhaftes operatives und taktisches Können zu überwinden glaubte. Das dritte Defizit macht Megargee in den operativen Planungen aus. Das mag zunächst einmal überraschen, gelten doch gerade die Leistungen der Wehrmacht im operativen Bereich bis heute als richtungweisend. Doch vernachlässigten die Deutschen in diesem Bereich völlig die unterstützenden Funktionen, namentlich im Bereich des Personalwesens, der Logistik und des Nachrichtendienstes. Traditionell besetzten die Deutschen die Ia-Stellen mit den besten jungen Generalstabsoffizieren, während die Ic-Stellen sehr bald nur mehr von Reservisten gefüllt wurden. Hinzu kommen als viertens Problem die strukturellen Schwächen mit den rivalisierenden Oberkommandos von Wehrmacht und Heer. Daneben buhlten noch SS und Luftwaffe um mehr Einfluss auf die strategischen und operativen Entscheidungen.
All diese Thesen sind einzeln nicht unbedingt als neu zu bezeichnen, doch werden sie von Megargee zusammengeführt und analytisch klar belegt. Problematisch wird es allerdings, wenn er seine Schlussthesen zum "Aspekt der Ideen" (286-288) im deutschen Oberkommando vorträgt. Sicherlich hat er Recht, dass der deutsche Ansatz einer Mischung von "militärischem Intellekt" und "Charakter" bei der Auswahl der Generalstabsoffiziere seine Probleme nach sich zog: Der Intellekt führt zu einer eng begrenzten Sicht auf das rein Militärische und der Charakter leistete einer gewissen Überheblichkeit deutscher Generalstabsoffiziere und schließlich der Unterschätzung des Gegners Vorschub. Hier sei aber die Gegenfrage erlaubt, ob andere Armeen im Zweiten Weltkrieg ihre Generalstabsoffiziere nach schlüssigeren Kriterien mit besseren Resultaten ausgesucht hatten.
Auch hat der Rezensent Probleme mit Megargees These, den Deutschen wäre im Zweiten Weltkrieg das Bewusstsein abhanden gekommen, dass der Krieg etwas Chaotisches sei. Stattdessen habe man Hitlers Kontrollfanatismus bis in die unteren Ebenen kopiert (287). Sicherlich sorgte der Starrsinn des Diktators für so manchen militärischen Rückschlag und der Generalstab um ihn herum ließ sich dabei zu selten auf grundlegende Diskussionen ein. Doch sah das Bild bei der Truppe schon mindestens ab Armeeebene anders aus. Hier verließ sich die Wehrmacht bis zum Kriegsende weitgehend auf das bewährte Prinzip der Auftragstaktik (das übrigens mit dem falschen Terminus "Führung durch Auftragserteilung" übersetzt wurde). Guderians Durchbruch bei Sedan 1940 ist eines der besten Beispiele dafür, wie Karl-Heinz Frieser in seinem Buch zur "Blitzkrieg-Legende" anschaulich belegt hat. [2] Bezeichnenderweise fehlt aber jenes grundlegende Werk in Megargees Bibliografie. Auch in der späten Phase des Kriegs konnten die Deutschen noch erhebliche militärische Leistungen vorweisen: Als Beispiele seien hier Mansteins Abwehrerfolge zur Stabilisierung der Ostfront nach dem Fall von Stalingrad oder die Kämpfe bei Tscherkassy im Frühjahr 1944 zu nennen. Auch an der Westfront gelangen den Deutschen einige Erfolge. So waren in den Normandie-Kämpfen während der Monate Juni und Juli 1944 die Verluste auf der alliierten Seite höher als auf der deutschen - trotz drückender materieller und personeller Überlegenheit. Selbst "fünf vor zwölf" fügten die Deutschen an den Seelower Höhen der Roten Armee 1945 schwere Verluste zu. Ein Schlüssel zum Verständnis dieses Phänomens liegt in der flexiblen Auftragstaktik bis auf den untersten Ebenen.
Letztlich glaubt Megargee, dass die militärischen Erfolge der Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf gerade einmal drei Faktoren beruhten, die er in seiner Arbeit allerdings nicht näher analysiert: Erstens, einem überlegenen Stabssystem und der Taktik, zweitens, der NS-Indoktrination und drittens, einer noch höheren Fehlerquote bei den alliierten Gegnern zu Beginn des Kriegs. Während man den ersten und letzten Punkt sicherlich ohne Einwände bejahen wird (wenngleich Kriege und Feldzüge nicht nur durch die Fehler der Gegenseite entschieden werden), gibt es beim zweiten Punkt doch sicherlich einige Vorbehalte zu erheben. Sicherlich war die Wehrmacht gegen Kriegsende stärker politisiert als zu Beginn. Demnach hätte sie aber - folgt man den Thesen Megargees - 1945 ihre höchste Kampfkraft gehabt. Auch der Hinweis von Williamson Murray im Vorwort, Teile der 7. Panzerdivision hätten im Westfeldzug 1940 über 70 % Verluste gehabt und dennoch drei Tage weitergekämpft (XI), ist als Zeichen einer erhöhten politischen Indoktrination wertlos. Denn gerade im Frankreichfeldzug waren die Verluste beim französischen Gegner sehr hoch, doch bekanntlich kämpften auch hier einige Einheiten bis zum bitteren Ende. Dasselbe ließe sich auch für britische, kanadische und amerikanische Einheiten in der ersten Landungswelle in der Normandie 1944 sagen. Niemand käme aber ernsthaft auf die Idee, dies als "demokratisch motivierten" Kampfgeist zu interpretieren.
Es ist Megargees großer Verdienst, Hitler als die zentrale Figur für die deutsche Kriegführung zu benennen. Dieses eigentlich eindeutige Faktum war in den ganzen letzten Jahren bei der Debatte und den Polemiken über die Wehrmacht fast schon aus den Augen geraten. Darüber hinaus hat Megargee überzeugend die Rolle des OKH und des OKW analysiert: Hitler arbeitete zweifelsohne in einem häufig verbesserungsfähigen Umfeld und einem fehlerhaften System. Anstatt allerdings den Mythos von OKH und OKW erheblich zu relativieren, war es Megargees Anliegen, eben diesen Mythos zu zerstören. Dabei ist er in seinem Eifer bei der Formulierung seiner Schlussthesen ein paar Schritte zu weit gegangen und hat sich somit selbst um die Früchte seiner im Hauptteil eigentlich vorbildlichen Arbeit gebracht. Fast scheint es so, als habe er in seiner Forschungsarbeit den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen. Denn niemand wird ernsthaft an den operativen Erfolgen der Wehrmacht in Angriff und Verteidigung insgesamt zweifeln können. Dass diese nur auf die bei Megargee oben genannten Gründe zurückzuführen wären (überlegenes Stabssystem und Taktik, NS-Indoktrination, Fehler der Gegner), erscheint als Erklärung auch in Hinblick auf die weit reichenden politischen Folgen für Europa in den Jahren 1939 bis 1945 fraglich.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu vor allem Trevor N. Dupuy: A Genius for War: The German Army and General Staff, 1807-1945, Englewood Cliffs 1977. Christian Millotat: Das preußisch-deutsche Generalstabssystem. Wurzeln - Entwicklung - Fortwirken, Zürich 2000.
[2] Vgl. Karl-Heinz Frieser: Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 1995.
Peter Lieb