Detlef Siegfried: Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; Bd. 41), Göttingen: Wallstein 2006, 840 S., 53 Abb., ISBN 978-3-8353-0073-6, EUR 49,00
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Mit "Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre" legt Detlef Siegfried, Associate Professor für Neuere Deutsche Geschichte und Kulturgeschichte an der Universität in Kopenhagen, seine Habilitationsschrift vor. Siegfried richtet den Fokus seiner Untersuchung auf die "60er Jahre als Sattelzeit einer politischen und kulturellen Pluralisierung" (10) in der Bundesrepublik Deutschland; seit 1958/1959 sei "nach dem Abflauen der Halbstarkenkrawalle und dem Boom der Dixieland, Skiffle und Beat-Bands" eine Massenkultur entstanden, welche sich bis 1973 stabilisiert habe und einen tief greifenden gesellschaftlichen Wandel indizierte (11).
Kern der Untersuchung ist die Analyse des reziproken Verhältnisses von Politik, Konsum und Pop. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Betrachtung des Musikmarktes. Trotzdem werden auch andere Bereiche der Jugendkultur, etwa Jugendzeitschriften oder Mode bis hin zu den Orten der Jugendkultur, nicht vernachlässigt. Auf stolzen 840 Seiten und in fünf Großkapiteln legt Siegfried die Entwicklung einer Jugendkultur dar, welche sich immer im Spannungsfeld von Politik und Konsum, gleichsam von Emanzipation und Kommerzialisierung befand. Konsum und Politik werden hierbei nicht als Antipoden verstanden; vielmehr geht es dem Autor um die "Parallelität von zunehmender Konsumtion und Politisierung" (13). Dieser Parallelität weist Siegfried einen gesellschaftlichen Ort zu.
Die Studie beginnt mit einer Darstellung des gesellschaftlichen Strukturwandels der frühen 1960er-Jahre. Durch ein Mehr an Freizeit, Bildung und Geld sei es zu einem Wertewandel und zu gesellschaftlichen Generationskonflikten gekommen. Nach dieser Absteckung des Terrains schlägt Siegfried den Bogen zur Entstehung einer jugendlichen Massenkultur in den Jahren 1959 bis 1963. Der Verfasser diskutiert spezifische gesellschaftliche Aspekte wie etwa die deutsche Vergangenheit, den Antikommunismus oder die Teilung Deutschlands im Hinblick auf die entstehende Popkultur. So wird etwa am Beispiel der Jugendzeitschrift "Twen" nachgewiesen, dass "[g]erade in der Entstehungsphase der jugendlich geprägten Massenkultur [...] das NS- Thema eine wichtige Rolle" (179) gespielt habe.
Für die Jahre 1963 bis 1967 attestiert Siegfried die Entfaltung der Konsumkultur und des Nonkonformismus. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Kontext die Beat-Musik, welche "ähnlich wie Sexualdarstellungen in den Medien, lange Haare bei jungen Männern, abweichendes Verhalten in der Öffentlichkeit in Form der Gammler [...] zu einem Kampffeld um die Respektabilität neuer Themen, Stile und kultureller Ausdrucksformen" (234) avanciert sei. Dieser Aufstieg englischsprachiger Popmusik in der Mitte der 60er-Jahre sei mit einer Politisierung der Gesellschaft einhergegangen (238) und das obwohl, so eine der zentralen Thesen Siegfrieds, sie auch kommerziellen Charakter gehabt habe. Die Faktoren Politik und Konsum seien kaum voneinander zu trennen, weshalb es folgerichtig die affektiven Aspekte waren, welche "der kulturellen Revolution der 60er-Jahre und auch der Popmusik ihre eigentliche Dynamik verliehen".
Die "wunderbaren Jahre" von 1967 bis 1969 markieren Siegfried zu Folge eine Reihe von "Fusionen von Konsum und Politik in der Gegenkultur" (429). Der Verfasser räumt den zeitgenössisch geführten Diskussionen um Sub- oder Gegenkulturen breiten Raum ein und legt einerseits die Versuche der Akteure, sich den steten Kommerzialisierungsversuchen vonseiten der Kulturindustrie zu entziehen wie andererseits die Vermischung von Konsum und Politik - auch als kreative Praxis der Emanzipation - überzeugend dar. Anhand zahlreicher Beispiele, etwa dem Festival auf der Burg Waldeck, den Essener Songtagen und dem sich hieraus formierenden "Underground", zeichnet Detlef Siegfried einen reziproken, zyklischen Widerstreit von Ästhetik, Kommerzialisierung und Politik nach. Dieser zeitigte durchaus positive Folgen. So belege etwa der Aufstieg der Langspielplatte einen "partiellen Übergang vom kurzlebigen Phänomen des 'Schlagers' zu einem auf lange Sicht tragfähigen, differenzierten Konzept von Unterhaltung". Die Etablierung der LP sei einhergegangen mit "Ausdifferenzierungen im Unterhaltungssektor, wie sie in Konzeptalben, Mischformen von E- und u-Musik oder langen, anspruchsvollen Pop-Stücken sichtbar wurden" (631).
Eine "Konsolidierung und Ausdifferenzierung im alternativen Alltag" schließlich fand, so Siegfried, in den Jahren von 1969 bis 1973 statt. Vor dem Hintergrund der Spaltung der Studentenbewegung beschreibt der Autor eine Ausdifferenzierung der Jugendkultur, welche die "Entstehung eines breiten Spektrums von alternativen Lebenskonzepten im Alltag" (746) zeitigte. In Wohngemeinschaften, Kommunen und Jugendzentren tummelten sich in diesen Jahren hedonistische Linksradikale, Alternative und dogmatische K-Gruppen-Anhänger, welche auch popkulturell zueinander in Konkurrenz standen, allerdings nicht ohne zahlreiche Bindestellen aufzuweisen. Ihnen gemein war etwa eine "Flucht vor der Vereinnahmung" (675) durch die Kulturindustrie, welche mit spezifischen Formen kulturellen Ausdrucks vollzogen wurde. Dass diese Flucht vor der Vereinnahmung mitunter schwierig zu bewerkstelligen war, wird am Beispiel von Underground-Bands aufgezeigt. Da die Medien daran interessiert gewesen seien, "Unkonventionelles zu bringen und selbst politischen Protest zu inszenieren" hätten sich auch die politischen Bands "ständig im Spannungsfeld zwischen professioneller Produktion und Vermarktung auf der einen und Verweigerung gegenüber nicht selbst bestimmten Formen auf er anderen Seite" (704) befunden.
Insgesamt, resümiert Siegfried, zeigte sich in der Jugendkultur "das Grundmuster des Wertewandels in pointierter Form": Eine Ablehnung der Erziehung und Sinnstiftung von oben bei gleichzeitiger Emanzipation, Bevorzugung eines hedonistischen Lebensstils, zunehmendes Interesse für Politik und eine Ausdifferenzierung der Lebensstile. Gleichzeitig habe das erweiterte Angebotsspektrum der Konsumgüterindustrie und der Medien vielfältiges Material für lebensweltliche Experimente geboten und sei durch Impulse aus der Jugendkultur immer weiter differenziert worden.
Detlef Siegfrieds Studie korrespondiert mit den aktuellen Ergebnissen der Forschung über den Wertewandel in den 1960er-Jahren, geht aber gleichzeitig in der Pointierung der Vermischung von Konsum und Politik darüber hinaus. Künftige Forschungsarbeiten, welche sich mit Jugend und Kultur, aber auch mit der Wirtschaft der 1960er- und 1970er-Jahre beschäftigen, werden an "Time is on my side" nicht vorbeikommen.
Andreas Kühn