Rezension über:

Alan E. Steinweis: Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in Nazi-Germany, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2006, 203 S., ISBN 978-0-674-02205-8, EUR 25,50
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Dirk Rupnow
APART-Stipendiat der ÖAW, Institut für die Wissenschaften vom Menschen IWM, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Rupnow: Rezension von: Alan E. Steinweis: Studying the Jew. Scholarly Antisemitism in Nazi-Germany, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 [15.05.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/05/11904.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Alan E. Steinweis: Studying the Jew

Textgröße: A A A

Wer Alan Steinweis' neues Buch in die Hand nimmt, könnte leicht auf eine falsche Fährte gelockt werden: Der Schutzumschlag zeigt ein Foto von der Vermessung eines menschlichen Kopfes. Die Szene scheint vertraut: sie wird auch ohne weitere Informationen unschwer in die Geschichte des "Dritten Reichs" eingeordnet werden können - eines Systems, das als weitgehend durch Anthropologie und Rassenkunde bestimmt gilt. Messinstrumente, damit vollzogene Vermessungen verschiedener Körperteile sowie idealtypische Darstellungen angeblich unterschiedlicher "Rassen" auf Wandkarten und in Schulbüchern bilden dementsprechend einen festen Bestandteil des visuellen Repertoires zur Repräsentation von "Rassenpolitik" und "Rassenwahn" der Nationalsozialisten.

Steinweis, der moderne europäische Geschichte an der University of Nebraska - Lincoln lehrt und bisher vor allem mit einer grundlegenden Studie über die Reichskulturkammer, aber auch als Herausgeber wichtiger Sammelbände hervorgetreten ist, widmet sich in seinem Buch Studying the Jew jedoch keineswegs der Rassenkunde, sondern dem Gebiet, das während des "Dritten Reichs" als "Erforschung der Judenfrage" oder aber kurz als "Judenforschung" bezeichnet wurde: ein interdisziplinäres Unternehmen mit eigenen Institutionen, Veröffentlichungsorganen und Diskussionsforen, das sich zur Aufgabe gemacht hatte, die jüdische Geschichte und Kultur zu erforschen - systemkonform, aus dezidiert antisemitischer Perspektive. Dabei handelte es sich allerdings nicht um biologisch-naturwissenschaftliche Forschungen, wie das Titelbild nahe legen würde, sondern um geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Arbeiten: beteiligt waren vor allem Historiker, Theologen und Soziologen, die aber natürlich von Rassediskursen stark beeinflusst waren, sie ihrerseits modifizierten, fallweise auch mit Rassenanthropologen zusammenarbeiteten.

Während "Ostforschung" und "Volksgeschichte" ganz offensichtlich eine antisemitische Komponente hatten, waren sie keineswegs auf das Judentum oder die so genannte "Judenfrage" fokussiert. In der so genannten "Judenforschung" wurde der Antisemitismus jedoch zum erkenntnisleitenden Prinzip erhoben, die jeweils bereits antisemitisch konstruierte "Judenfrage" zum Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Interesses und Fokus der Forschungstätigkeit. Entgegen auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg fortwirkenden Traditionen der etablierten deutschen Historikerzunft wurden so im "Dritten Reich" Themen jüdischer Geschichte durchaus für erforschungswürdig gehalten.

Allein schon die Übertragung der kontaminierten Begrifflichkeiten ins Englische bereitet Schwierigkeiten: Übersetzungen wie "Jewish research" oder "Jewish studies" lassen den spezifischen Charakter dieser Arbeiten nicht vollständig transparent werden. Die deutsche Kurzform kann den Affekt und die diskriminierende Absicht nur schwer verbergen. Im Untertitel entscheidet Steinweis sich denn auch für "Scholarly Antisemitism", das erste Kapitel ist mit "Antisemitism of Reason" überschrieben. Treffender noch wäre vermutlich "anti-Jewish scholarship", weil weniger eine Verwissenschaftlichung des Antisemitismus als Wissenschaft aus konsequent antijüdischer Perspektive betrieben wurde. Antisemitismus bedurfte aus der Perspektive der "Judenforscher" keiner weiteren wissenschaftlichen Rechtfertigung. Dennoch legitimierten sie durch ihre Arbeit als Wissenschaftler natürlich immer wieder die antisemitische Ideologie und antijüdische Politik, die sie ohnehin guthießen.

In fünf Kapiteln beschreibt Steinweis allgemein das Feld antijüdischer Wissenschaften im "Dritten Reich" und die wichtigsten Institutionen ("An 'Antisemitism of Reason'") sowie einzelne beteiligte Disziplinen und Wissenschaftler: Rassenanthropologen und -biologen ("Racializing the Jew"), Theologen ("The Blood and Sins of Their Fathers"), Historiker ("Dissimilation through Scholarship") und Soziologen ("Pathologizing the Jew"). In einem Epilog wirft er einige Schlaglichter auf die Nachkriegsgeschichte. Dabei stützt er sich weniger auf eigene Archivrecherchen, sondern unterzieht vornehmlich publizierte Texte der NS-Judenforscher einer eingehenden Analyse. Erstaunlicherweise werden solche genauen Analysen antisemitischer Texte in der Forschung ja eher selten unternommen, weil die Texte zu fragwürdig erscheinen. Dabei bedeutet eine kritische Analyse keinesfalls eine Aufwertung. Vielmehr ist sie notwendig, um zu differenzierten und abgesicherten Ergebnissen jenseits von vereinfachenden Schlagworten und eingefahrenen Vorannahmen zu kommen.

Archivrecherchen wären freilich notwendig, um das Bild zu vervollständigen. Zu vielen Fragen und Aspekten würde man gerne Genaueres erfahren: Die Verstrickungen der antijüdischen Wissenschaftler mit Politik und Propaganda könnten detaillierter dargestellt werden, schließlich reichten sie von der Beteiligung am europaweiten Raub von Kulturgut bis hin zur Kategorisierung von Opfern im Rahmen der Vernichtungspolitik; das Reichssicherheitshauptamt mit seiner "Gegnerforschung", in der es auch um Judentum und Juden ging, könnte Berücksichtigung finden; interne Debatten über die antijüdischen Forschungen, vor allem im Zuge von einschlägigen Qualifikationsarbeiten an den Universitäten, wären zu untersuchen; die zeitgenössischen jüdischen Reaktionen würden eine interessante Perspektive auf die antijüdischen Forschungen bieten; und nicht zuletzt die verschobene und untergründige Nachkriegsgeschichte dieser Disziplin und ihrer Proponenten wäre zu ergründen. Eine Diskussion würde auch das spezifische Verhältnis der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu Konzepten und Begriffen von "Rasse" verdienen.

Und auch die wohl zentrale und entscheidende Frage hätte noch entschiedener behandelt werden können: Welches ist der wissenschaftliche Status dieser Arbeiten? Handelt es sich nur um "Pseudo-Wissenschaft" und Propaganda, um eine "perversion of scholarship by politics and ideology"? Wie vereinbart sich das aber mit der fortgesetzten Benutzung einiger Arbeiten aus diesem Kontext nach dem Krieg und mit teilweise fortgesetzten Karrieren? Denn es ist keineswegs so, dass alle Veröffentlichungen der NS-Judenforschung mit dem Ende des "Dritten Reiches" in den Untiefen der Bibliotheksspeicher verschwunden sind. Einige, entstanden vor 1945, sind sogar erst nach dem Krieg veröffentlicht oder auch nachgedruckt worden. Oder handelt es sich um normalwissenschaftliche Forschung, die nur unter besonderen historischen Bedingungen (von staatlicher Diskriminierung bis hin zu systematischem Massenmord) und unter dem Einfluss der Weltanschauung und dem Wissenschaftsverständnis ihrer Zeit entstanden ist? Natürlich sind diese Fragen nicht einfach zu beantworten, vielleicht können sie auch nie abschließend beantwortet werden. Sie bleiben aber grundlegend für eine immer wieder notwendige Selbstreflexion der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit und ihrer vielfältigen Anfälligkeiten. Gerade dafür kann die kritische Auseinandersetzung mit Wissenschaft unter den Bedingungen des Nationalsozialismus einen guten Ausgangspunkt bieten.

Tatsächlich macht das Thema es seinen Bearbeitern auch nicht gerade leicht. Immerhin handelt es sich um ein seinerzeit neu gegründetes, transdisziplinäres Forschungsfeld, das in sehr unterschiedliche Traditionszusammenhänge eingebunden war. Gleichzeitig spiegelte es die komplizierten Funktionsmechanismen und komplexen Herrschaftsstrukturen des "Dritten Reichs" wieder, war bestimmt von Konkurrenzen und Kooperationen, die innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit eine erstaunliche Dynamik erzeugten - und schließlich in eine unübersehbare Vielzahl von Publikationen verschiedenster Art mündeten. Insgesamt handelt es sich mithin geradezu um ein Musterbeispiel für Wissenschaft im Nationalsozialismus.

Steinweis' Buch bietet einen sehr guten und materialreichen Überblick über die antijüdischen Forschungsbemühungen im "Dritten Reich". Vor allem aber setzt er ein Thema wieder auf die Tagesordnung, das dort in den vergangenen Jahren - abgesehen von einigen Aufsätzen - erstaunlicherweise kaum zu finden war. Er knüpft direkt an Max Weinreich an, dessen Buch Hitler's Professors. The Part of Scholarship in Germany's Crimes against the Jewish People immerhin bereits 1946 erschienen ist. Gleich nach Kriegsende und unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse hatte der lettische Jiddist und Gründer des YIVO, des wichtigsten Zentrums zur Erforschung des osteuropäischen Judentums und der jiddischen Sprache, die unübersehbare Allianz von Wissenschaft und Ideologie im "Dritten Reich" beschrieben und als Herausforderung wahrgenommen. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat das Thema nicht nur weitgehend unbearbeitet gelassen, sondern lange Zeit wegen der eigenen Involvierung - wie die gesamte Fachgeschichte - geradezu unterdrückt. Sogar in den Debatten der vergangenen Jahre über "Ostforschung" und "Volksgeschichte" spielten die antijüdischen Forschungen kaum eine Rolle. Dementsprechend handelt es sich um eine wichtige Neuerscheinung, auch für deutsche Leserinnen und Leser.

Dirk Rupnow