Siegfried Hermle / Claudia Lepp / Harry Oelke (Hgg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (= Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen; Bd. 47), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 408 S., ISBN 978-3-525-55748-8, EUR 68,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Florian Bock / Christian Handschuh / Andreas Henkelmann (Hgg.): Kompetenzorientierte Kirchengeschichte. Hochschuldidaktische Perspektiven "nach Bologna", Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015
Lucia Scherzberg (Hg.): Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdiszipinären Vergleich. In Zusammenarbeit mit Werner Müller, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2005
Christian Heuer / Manfred Seidenfuß (Hgg.): Problemorientierung revisited. Zur Reflexion einer geschichtsdidaktischen Wissensordnung, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2020
Nachdem die Konfessionen in der Flut der Publikationen, die um die Jahrtausendwende im Umfeld des dreißigjährigen Jubiläums von "1968" erschienen sind, praktisch keine Rolle gespielt haben, scheint sich das seit kurzer Zeit grundlegend zu ändern. Die kirchliche Zeitgeschichte wird zunehmend von jüngeren, nicht unbedingt kirchennahen, jedoch an Kultur und Gesellschaft interessierten Historikern entdeckt. Aber auch seit jeher in diesem Bereich tätige Forschungseinrichtungen wie die katholische Kommission für Zeitgeschichte und die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte erschließen nach jahrzehntelanger Fixierung der Forschungsarbeit auf den Nationalsozialismus die 60er- und 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zunehmend als untersuchenswertes Forschungsfeld.
Zeugnis davon legt unter anderem dieser auf eine Tutzinger Tagung der "Arbeitsgemeinschaft" zurückgehende sorgfältig edierte Sammelband ab. Ausdrücklich sollen in ihm "neue Forschungsfelder" (9) abgeschritten werden - ein sicherlich sehr lohnendes Unterfangen, gelten die beiden Jahrzehnte doch als "formative period for west European religion in the later 20th century" (46) wie Hugh Mc Leod nach einem instruktiven Durchgang durch die einschlägige internationale Forschungsliteratur feststellt. Diese Einschätzung wird für die evangelische Kirche in Deutschland von nahezu allen abgedruckten Einzelbeiträgen bestätigt.
So lassen sich in einem ersten Teil der Publikation zahlreiche "Beziehungsfelder" beschreiben, auf denen der Protestantismus mit den sozialen Bewegungen der Zeit in Kontakt trat und sich veränderte. Das gilt etwa für die Studentengemeinden (Angela Hager), die Stellung der Frau in der Kirche (Helga Kuhlmann), die kirchliche Sexualmoral (Simone Mantei), den "Ökumenische Rat der Kirchen" (Reinhard Frieling) und die Theologie (Roland Spliesgart). Auf all diesen Feldern bekommt man den Eindruck, dass der Protestantismus die Trends der Zeit in gleichermaßen "verdünnter" und "verbürgerlichter" Form übernahm. Aus der Revolution der Gesellschaft wurde die Reform der Studentengemeinde, aus der Befreiung der Frauen wurde die Zulassung zur Ordination, aus der sexuellen Befreiung wurde die "Personalisierung der Sexualität" (173), aus dem antikolonialen Befreiungskampf eine christliche Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung und die Befreiungstheologie. Damit wurde der Protestantismus aus Sicht des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, zu "einem Herzschrittmacher der modernen Demokratie" (397).
Bestätigt wird der Eindruck rasanter Veränderung von den Beiträgen, die im Weiteren unter den Überschriften "Institutionen und Personen" sowie "Strukturen und Frömmigkeitsformen" versammelt wurden. Hier geraten mit Helmut Gollwitzer (Claudia Lepp) und Dorothee Sölle (Peter Cornehl) nicht nur Brückenbauer zwischen sozialen Bewegungen und Kirche oder drastische Veränderungsprozesse bei Kirchentagen (Harald Schroeter-Wittke), Landeskirchen (Jan Hermelink) und Kirchenmusik (Peter Buhlmann) in den Blick, sondern auch Gegenbewegungen. Die Beiträge von Norbert Friedrich über Helmut Thielicke als Antipode der sozialen Bewegungen und Siegfried Hermle über evangelikale Mobilisierungsprozesse zeigen aber deutlich, wie sehr der Diskurs vom Veränderungsimperativ bestimmt wurde. Sowohl Thielicke als auch evangelikale Strömungen verloren mit dem Abtreten einer älteren, durch den Kirchenkampf geprägten Generation zunehmend den Resonanzboden für ihre konservative Kritik und gerieten ins Abseits.
Schon aufgrund seiner Pionierfunktion und der Bandbreite seiner Themen wird der Band sicherlich zum Standardwerk avancieren, an dem man bei der Beschäftigung mit der Zeitgeschichte des Protestantismus nicht vorbeikommt. Eine Fülle lohnenswerter Forschungsthemen wird identifiziert und in meist sorgfältig und quellennah gearbeiteten Beiträgen einer ersten Exploration unterzogen. Sichtbar wird allerdings auch ein bereits auf der Tagung vom Religionssoziologen Detlef Pollack angemahnter Mangel an problemorientiertem Herangehen, theoretischer Durchdringung und methodischer Reflektion (359), der die immer wieder geforderte Anschlussfähigkeit an die Allgemeingeschichte und Sozialwissenschaft behindern dürfte. So gerät beispielsweise der Protestantismus durch die recht eindimensionale Frage nach den "Rückwirkungen der innovativen neuen sozialen Bewegungen" (21) in der Rolle jenes von Walter Benjamin beschriebenen Engels der Geschichte, der ohne Reaktionsmöglichkeiten vom Sturm des Fortschritts immer weiter geblasen wird. Vorhandene Opportunitätsstrukturen, die Rekonstruktion der Aneignungs- und Adaptionsprozesse, die soziale und kulturelle Praxis der Wechselwirkung (!) kommen kaum in den Blick. Dadurch bleibt die Rede von den sozialen Bewegungen als "Katalysatoren des Protestantismus auf dem Weg vom nationalkonservativen Mehrheitsprotestantismus [...] zu linksliberalen Einstellungsmustern" (379) ohne empirische Fundierung.
Noch fällt es angesichts des Fehlens forschungsleitender Hypothesen und eines theoretischen Orientierungsrahmens schwer, den "Wald vor lauter Bäumen" zu sehen, wie es ein Teilnehmer in der ebenfalls in dem Band dokumentierten Schlussdiskussion der Tagung ausdrückte (375). So sympathisch die Dekonstruktion von Narrativen auch ist: Zunächst müssen sie doch erzählt werden.
Christian Schmidtmann