Rezension über:

Karin Hartbecke / Christian Schütte (Hgg.): Naturgesetze. Historisch-systematische Analysen eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Paderborn: Mentis 2005, 322 S., ISBN 978-3-89785-447-5, EUR 38,00
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Rezension von:
Nicole Karafyllis
Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Karafyllis: Rezension von: Karin Hartbecke / Christian Schütte (Hgg.): Naturgesetze. Historisch-systematische Analysen eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Paderborn: Mentis 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/10801.html


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Karin Hartbecke / Christian Schütte (Hgg.): Naturgesetze

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Karin Hartbecke und Christian Schütte haben eine interessante Aufsatzsammlung zum Begriff des Naturgesetzes und seiner Geschichte vorgelegt. Der Paderborner mentis-Verlag bietet damit in kurzer Folge zwei Bände zu Naturgesetzen an, wobei Michael Hampes wissenschaftsphilosophische Anthologie [1] einen lesenswerten Fokus auf die sprachanalytische Tradition einnimmt, die im zu besprechenden Band kaum berührt wird. Insofern ergeben sich trotz des gleichen Titels keine Überschneidungen.

Der Band ist historisch gegliedert und wird von den Herausgebern sowohl mit einer programmatischen Einleitung, als auch mit methodologischen Überlegungen von Karin Hartbecke eingeführt. Die daran anschließenden Autorinnen und Autoren untersuchen Naturgesetzkonzeptionen von der Antike (Gottfried Heinemann) über das Mittelalter (Robert Schnepf) und die Frühe Neuzeit (Gerd Graßhoff, Christian Schütte, Hans-Joachim Waschkies, Andreas Hüttemann) bis in die Moderne (Karin Hartbecke, Michael Hampe, Michael Heidelberger, Johannes Lenhard / Wolfgang Krohn). Der schon 2001 auf Italienisch erschienene Beitrag von Francesco Bottin ("Gesetze der Natur und Gesetze Gottes vom Mittelalter bis zur Moderne") fällt als zum Mittelalter positionierter Überblicksartikel etwas aus der Reihe.

Quer zur historischen Ordnung steht die systematische Einteilung bezüglich der Begriffe "Natur" und "Gesetz", die verständlicherweise nicht durchgehalten werden kann. Der einzige Beitrag, der dezidiert den Naturbegriff untersucht und aus den Quellen (u. a. Homer, Aristophanes, Hippokrates) rekonstruiert, ist der wegweisende Aufsatz von Gottfried Heinemann: "Natur und Regularität. Anmerkungen zum vor-aristotelischen Naturbegriff". In dieser Zeit wurde der explizite Gegensatz von nomos und physis vorbereitet, den es nachfolgend immer wieder neu zu überwinden oder auch zu bekräftigen galt. Heinemann unterscheidet eine genetische von einer dynamischen Konstitution des Naturbegriffs. Vor allem der Topos der adeligen Herkunft ist dabei zentral. Nach dem dynamischen Naturbegriff wird die Disposition aus ihrer Aktualisierung erkannt, nach dem genetischen Naturbegriff wird sie aus Ursprung und Werden erschlossen. Dieses auf souveräne Weise eröffnete semantische Feld um Natur und Gesetz, das vor allem für anthropologische Deutungsprimate von "Natur" im Verhältnis zu den Biowissenschaften wichtig ist, bleibt im Fortgang des Bandes wegen des kosmologisch-astronomischen Schwerpunkts leider unbeackert.

Hier sei eine editorische Kritik angemerkt, denn "der" aristotelische Naturbegriff in seiner Pluralität [2] wird nirgends erläutert, obwohl doch dessen Überwindung eine der Hauptthesen des Bandes ist. Ausgangspunkt von Hartbecke / Schütte ist die zu ihrer Überprüfung kontrafaktisch eingesetzte, moderne wie modernisierende These, dass der Naturgesetzbegriff im 16. und 17. Jahrhundert zum "epistemologischen Fundament einer neuen Wissenschaft" wird, "welche die überkommene aristotelische Naturphilosophie in einer 'wissenschaftlichen Revolution' ablöst und in wesentlichen Zügen bis in unsere Zeit erhalten bleibt" (11). Was aber waren die Kennzeichen der "überkommenen" aristotelischen Naturphilosophie, und für wen galt und gilt sie als überkommen? Umso mehr schmerzt diese Unterlassung, als sich die spannenden Aufsätze von Robert Schnepf und Hans-Joachim Waschkies direkt mit Aristoteles' Prämissen auseinandersetzen. Auch stoische und neuplatonische Transformationen bleiben im Band ausgeblendet. Freilich kann ein Sammelband nie allen Aspekten gerecht werden, aber: Der symptomatische Wegfall des Naturbegriffs [3] in den späteren Epochen, die sich dann anscheinend - wenn man dem Band systematisch folgen mag - eher auf die Gesetzmäßigkeit von Gottes Handeln bzw. die "Natürlichkeit" Gottes und das Verhältnis von Zufall und Notwendigkeit konzentrierten, wäre eine Begründung Wert. In der Einleitung werden "Programme einer Säkularisierung der Natur und der naturwissenschaftlichen Beschreibungssysteme", zu denen eine "immanent gesetzlich" verfasste Natur gehöre (18), kurz genannt. Wie sich aber das Verhältnis von Beschreibung und Erklärung der "Natur" dadurch verschiebt und ein Anspruch auf Realität konstituiert wird, bleibt offen. Der Wunsch, "Naturgesetz" als wissenschaftlichen Grundbegriff zu rekonstruieren (Buchtitel), lässt eine implizite Allianz von Natur und Gott als "das Andere" der Wissenschaft aufscheinen, die ebenso klärungsbedürftig ist wie die zweite implizite These von Wissenschaft als dem Anderen der Gesellschaft. Ferner vermisst man einen rechtshistorischen Beitrag zum Gesetzesbegriff sowie die Einarbeitung der wichtigsten arabisch-islamischen Quellen (gerade für die Aufsätze zum Mittelalter und der Frühen Neuzeit) und der diesbezüglichen Sekundärliteratur. [4] So wird in dem Artikel von Christian Schütte der Kampfbegriff der "radikalen Averroisten" verwendet, ohne diesen historisch zu reflektieren (z. B. dessen Umdeutungen in der Frühen Neuzeit) oder gar begrifflich von den eigenen Aussagen des Averroes abzusetzen, die aber ohnehin nicht erwähnt werden.

Diese Monita fallen bezüglich der Ausrichtung einer historisch-systematischen Analyse ins Gewicht, schwächen jedoch den insgesamt guten Gesamteindruck des Bandes nur wenig. Sehr lesenwert ist der Aufsatz von Michael Heidelberger: "Die Kontingenz der Naturgesetze bei Émile Boutroux". Mit Boutroux' Grundunterscheidung von contingence und hasard wird eine französische Perspektive hinzugewonnen, die durch den kenntnisreichen Artikel von Karin Hartbecke zu Newton im Materialismus der Französischen Aufklärung eröffnet wurde.

Zwei Aufsätze können noch kurz vorgestellt werden, fast alle hätten es verdient. Michael Hampe spannt mit "Idealistische Variationen. Beobachtungen zur Entwicklung des Gesetzesbegriffs von Kant bis Peirce" einen Rahmen, in dem subjektivitätstheoretische wie prozessmetaphysische Begründungen der Naturgesetze ihren Platz finden. Im Gegensatz zu Newtons voluntaristischem Verständnis, dass Gott über die von ihm erschaffenen Körper und den Raum die Naturgesetze erlässt, verspricht die kantische Transzendentalphilosophie die Gesetzmäßigkeit der Natur rational nachvollziehbar zu machen. Die Einheit der gesetzlichen Natur ist hier gerade kein Gegenstand der Erfahrung, sondern es ist die Urteilskraft, die eine höhere nomologische Einheit stiftet. Schelling hat diese Sicht kritisch weitergeführt und gelangt zu einem immanentistischen Modell, der Einheit von Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis. Hegel wendet sich gegen eine Anthropomorphisierung der Natur und ihrer Gesetze, die keine Differenz mehr zu den Rechtsgesetzen erlaubt. Dieser Hinweis bleibt aktuell. Hampes Beitrag liefert auch für Nicht-Philosophen eine klare Darstellung des Grundproblems: die Fremdheit der Natur gegenüber dem menschlichen Freiheitsbewusstsein begreifbar zu machen, ohne gleichzeitig die Natur als Bedingung eben dieses Freiheitsbewusstseins begrifflich auszuhöhlen.

Mit einem Beitrag zu Edgar Zilsels Versuch einer Grundlegung physikalischer und sozio-historischer Gesetze (Johannes Lenhard / Wolfgang Krohn) kommt der Band im 20. Jahrhundert an. Zilsel wollte zu der methodologischen Frage beitragen, inwieweit die Geistes- und Sozialwissenschaften als Wissenschaften gelten können, obschon sie keine Gesetzeswissenschaften im engeren Sinne seien. Sein Ausgangspunkt war eine universelle Gesetzmäßigkeit, wie er sie bereits in seiner Dissertation "Das Anwendungsproblem" untersuchte: das Gesetz der großen Zahlen, das "formalste aller Gesetze". Wichtiger Hintergrund ist die "probabilistische Revolution" zwischen ca. 1850 und 1930. In der "Blütezeit der Würfelversuche" (299) wurde Wahrscheinlichkeit zum objektivierbaren Faktum. Dies betraf auch das Projekt einer Mathematisierung der Natur(gesetze): Naturgesetze, die in Geschichte und Gesellschaft gelten, seien typengleich zu denen der Physik. So lautet Zilsels wissenschaftspolitische Forderung, für den wissensbasierten Fortschritt der Gesellschaft verstärkt empirisches Material zu sammeln und auszuwerten, anstatt in den logischen Argumentationen des Wiener Kreises zu verharren. Sein akribisches Sammeln von "Fakten" verstand Zilsel als oppositionelles Projekt.

Der vorgestellte Band ist kein oppositionelles Projekt. Das wäre auch gar nicht gewollt. Er besticht durch das Aufzeigen systematischer Kontinuitäten und durch die Analyse begrifflicher Transformationen. Ein sympathisch deutliches Fazit, das man auf den Band übertragen kann, zieht Robert Schnepf. Er erinnert daran, "dass dieser Begriff ursprünglich eingebettet gewesen ist in eine den Menschen und die Natur gleichermaßen umfassende Theorie, die sowohl der Naturnotwendigkeit wie der Freiheit des Menschen gerecht werden wollte [...]. Wenn ich richtig sehe, sind wir heute davon eher weit entfernt und begnügen uns stattdessen mit einer unverbundenen Mannigfaltigkeit von Analysen zu den verschiedensten Gegenstandsbereichen. Gute Ursprungsgeschichten lösen gegenwärtige Aufgaben nicht - aber sie erinnern wenigstens an sie." (110).


Anmerkungen:

[1] Michael Hampe (Hg.): Naturgesetze, Paderborn 2005.

[2] Siehe Gregor Schiemann: Natur, Technik, Geist. Kontexte der Natur nach Aristoteles und Descartes in subjektiver und lebensweltlicher Erfahrung, Berlin / New York 2005.

[3] Vergleiche Kristian Köchy / Gregor Schiemann (Hg.): Natur im Labor. Philosophia naturalis, Band 43, Heft 1, Frankfurt am Main 2006.

[4] Siehe Dominik Perler / Ulrich Rudolph: Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-islamischen und im europäischen Denken, Göttingen 2000.

Nicole Karafyllis