Beat Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek; Bd. 32), Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2006, 2 Bde., 319 S. + 184 S., 214 Abb., ISBN 978-3-86560-030-1, EUR 48,00
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Beat Wyss nähert sich dem Bild und dem Kunstsystem in seinem neuen Buch in vier Kapiteln. Auf der Grundlage der Ansätze von Nelson Goodman und Charles Sanders Peirce und unter Einbeziehung der Epistemologie Michel Foucaults und der Systemtheorie von Niklas Luhmann untersucht er die Bildstrukturen und das Kunstsystem verschiedener Zeitalter.
Die Tour de force durch Kunstgeschichte, Bildwissenschaft und Kunstsystem beginnt mit der Analyse des fotografischen Zeitalters und dessen Bildkrise, mit der sich schon Walter Benjamin in seiner 1931 erschienenen Schrift "Kleine Geschichte der Photographie" auseinander setzte. Wyss spannt den Bogen weit und fragt, was eine kritische Fototheorie, ein Buch über wundertätige Ikonen und ein Fernsehkrieg um 1990 miteinander gemeinsam haben. Sie alle beschreiben, so sein Fazit, Symptome einer epochalen Bildkrise. Mit Blick auf die Medien und die neuen technologischen Möglichkeiten im 21. Jahrhundert erfahre Benjamins Text von der "Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit" eine Umwertung. Nun müsse man nach der Kunst im Zeitalter der digitalen Produzierbarkeit fragen. Die Auffassung, dass Fotografie die wahre Spur des Wirklichen sei, die sich mit der Erfindung des Mediums um die Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, habe schon bald ihre Gültigkeit zur Disposition gestellt.
Wyss erläutert in seinen Ausführungen, dass die Wahrnehmung des fotografischen Bildes der jeweiligen Betrachterperspektive und dem Wissen um dessen Entstehung unterliege. Während William Fox Talbot den Fotoapparat 1844 als Registriergerät und untrüglichen pencil of nature wahrnahm, sah Walter Benjamin in der Fotografie um 1935 schon ein technisches Medium zur Ergründung des gesellschaftlichen Unbewussten. Hieran knüpfte Ende der Siebzigerjahre Roland Barthes an, der in der Fotografie ein Medium der Vergegenwärtigung eines Abwesenden erkannte und das fotografische Bild der Phänomenologie erschloss. Zuvor hatten Autoren wie Rudolf Arnheim, Pierre Bourdieu und Susan Sonntag in ihren Texten das naive Vertrauen auf Objektivität des fotografischen Mediums kritisiert. Wyss sieht das Bild, um mit Nelson Goodman zu sprechen, vor allem als Partitur für gemeinsame Deutungsarbeit, dessen visuelle Wahrheit für eine bestimmte geschichtliche Verweildauer gültig ist. Dieses Phänomen, dem sich der Autor im zweiten Kapitel "Das Bild als Zeichen. Drei Epochen der Evidenz" nähert, nennt er das epochale Plateau einer Bildauffassung.
Hieran schließt sich das dritte Kapitel "Die Nachträglichkeit der Bilder - Man sieht nur, was man sieht" an, in dem sich Wyss mit Freuds "Nachträglichkeit", Warburgs "Nachleben" und Panofskys "Renaissance" befasst. Der Autor diskutiert, auf welche Weise die Semiotik als Abstraktionsleistung der Moderne zu verstehen ist und inwiefern das Verstehen der Zeichen von sozialen, geschichtlichen und kulturellen Milieus abhängig ist. Dabei versucht er, die phänomenologische Trias von Bild, Körper und Medium mit der semiotischen Trichotomie (den drei Klassen von Zeichen der Objektrelation nach Peirce: Ikon, Index und Symbol) parallel zu setzen. Hierbei bezieht sich der Autor im ersten Schritt auf den von Sigmund Freud verwendeten Begriff der Nachträglichkeit, mit dem jener darauf hinwies, dass frühere Erinnerungsspuren durch spätere Erlebnisse einer permanenten Umordnung unterworfen sind. Wyss knüpft an die Vorstellung Freuds an, nach welcher das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist und in verschiedenen Arten von Zeichen niedergelegt wird. Das vorhandene Material von Erinnerungsspuren erfahre auf diese Weise von Zeit zu Zeit eine Umordnung nach neuen Beziehungen. In einem zweiten Schritt setzt Wyss die Erkenntnisse Freuds in Beziehung zu Aby Warburg, dessen Verhältnis zur Psychoanalyse immer noch ein Forschungsdesiderat darstelle. Dem Autor geht es hier um die Darstellung von diskursanalytischen Parallelen, die sich zwischen Freud und Warburg beschreiben lassen. Er exemplifiziert dies anhand von Warburgs Entschlüsselung des Schifanoia-Bilderzyklus, mit dem dieser die ikonologische Methode eröffnete und zugleich die Traumgedanken der Bilder zu erfassen versuchte. Zuletzt befasst sich der Autor dann noch mit Panofskys Renaissance-Begriff, den er in Abgrenzung zu Warburgs Nachleben der Antike als Disjunktionsprinzip beschreibt, bei dem Stilreinheit dadurch vermieden werde, dass antike Formen mit zeitgenössischen Vorstellungen durchsetzt werden. Panofskys Vorgehensweise lasse sich deshalb mit Freuds Verfahrensmodell der Traumdeutung vergleichen.
Im vierten Kapitel, das den Schwerpunkt des Buches bildet, widmet sich Wyss vorrangig der Systemanalyse von Luhmann, der aufgezeigt hat, dass das Kunstsystem mehr als andere Funktionssysteme (Religion, Politik, Wissenschaft oder Recht) in der Lage ist, die Pluralität von Komplexitätsbeschreibungen zu akzeptieren. Mehr und vor allem deutlicher als in anderen Funktionszusammenhängen wird in der Kunst vorgeführt, dass die moderne Gesellschaft nur noch polykontextural beschrieben werden kann. Hieran knüpft Wyss an, wenn er sich mit dem "Stammsystem Herrschaft" sowie den Anlehnungskontexten von Wissenschaft und Ökonomie auseinander setzt und den Weg des Kunstsystems von Cimabue bis zum Duchamp-Effekt aufzeigt. Allerdings folgt er der soziologischen Theorie von Luhmanns "Kunst der Gesellschaft" nicht geradlinig, sondern mischt dessen Ansatz mit den drei Zeichenklassen von Peirce. Mit diesem theoretischen Analysewerkzeug versucht Wyss den Bildbegriff vom historischen Prozess der Kunstautonomie her zu verstehen. Dezidiert setzt er sich mit den Anfängen des sich etablierenden Kunstmarktes auseinander und untersucht das Phänomen der öffentlichen Meinung als einem neuen Anlehnungskontext für die Kunst. Dieser bildete sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts heraus, als fürstliche Sammlungen dem allgemeinen Publikum zugänglich gemacht wurden und der Abschied von Hofkunst und zunftmäßiger Kunstproduktion mit der Einführung des Begriffs des Ausstellungskünstlers markiert wurde. Nicht mehr Fürst und Auftraggeber, sondern die Öffentlichkeit wurde zum ersten Adressaten dieses neuen Künstlertyps. Detailreich zeigt der Autor den Prozess der Auseinanderdifferenzierung und des Auseinanderdriftens von Künstlertheorie, Kunstkritik und Betrachterurteil im länderübergreifenden Vergleich zwischen Frankreich und England auf.
Allerdings begibt sich Wyss mit seinem Gesamtvorhaben auf schwieriges Terrain, da er den Weg vom kultischen zum rhetorischen Bild mit einer experimentellen Denkanordnung beschreitet, deren Verbindung von Semiologie und Systemtheorie nicht leicht nachvollziehbar ist. Am Ende des groß angelegten Parcours durch Kunstgeschichte, Kunsttheorie, Kunstsystem und Bildwissenschaft steht erneut die Fotografie. Sie ist für Wyss der visuelle Speicher der Kunst, über den Produktion, Distribution und Konsumption verlaufen und mit dem die Bildwissenschaft erst möglich wurde. Durch die fotografische Wiedergabe konnte die Verschiedenheit der Gattungen von Architektur, Skulptur, Malerei und Kunsthandwerk in ein angleichendes Format zweidimensionaler Erscheinung geebnet werden.
Im Kommentar zu dem begleitenden Bildband, der sich nicht als Illustration des Textbandes, sondern als ein Kaleidoskop von Bildern, deren Auswahl vor dem Text stattfand, versteht, weist Wyss auf seine Gedankengänge am Leuchttisch hin, die sich entwickelten, während er die Diapositive in eine visuelle Ordnung zu bringen versuchte. Mit seinem Verfahren huldigt der Autor der kunst- und kulturgeschichtlichen Assoziation von André Malraux, Aby Warburg und Walter Benjamin. Anknüpfend an das "Musée imaginaire", den "Mnemosyne-Atlas" und die Aura fotografischer Anmutung artikuliert Wyss die Hoffnung, dass die ausgewählten Reproduktionen beim Betrachten zu neuen, von ihm noch nicht ausgedachten Querbezügen verführen. Zugleich plädiert er in seinen Analysen der Bildstrukturen und Kunstsysteme für eine unkonventionelle Herangehensweise und die Erprobung innovativ kombinierter kunst- und kulturgeschichtlicher Methoden.
Nicola Hille