Jens Willhardt: Kulturbegegnung mit dem Orient. Eine Untersuchung historischer Reiseberichte sowie der Berichte von Touristen und Auslandsentsandten am Beispiel des Jemen (= Studies on Modern Yemen; Vol. 5), Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2004, X+313 S., ISBN 978-3-87997-318-7, EUR 45,50
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hans Gebhardt / Dorothee Sack (eds.): History, Space and Social Conflict in Beirut. The Quarter of Zokak al-Blat, Würzburg: Ergon 2005
Hannes Grandits: Herrschaft und Loyalität in der spätosmanischen Gesellschaft. Das Beispiel der multikonfessionellen Herzegowina, Wien: Böhlau 2008
Tilmann Trausch: Formen höfischer Historiographie im 16. Jahrhundert. Geschichtsschreibung unter den frühen Safaviden: 1501-1578, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2015
Werner Ende / Udo Steinbach (Hgg.): Der Islam in der Gegenwart, 5., neubearb. Auflage, München: C.H.Beck 2005
Josef van Ess: Im Halbschatten. Der Orientalist Hellmut Ritter (1892-1971), Wiesbaden: Harrassowitz 2013
Vor uns liegt eine sehr lesenswerte Dissertation aus dem Erlanger Institut für Geographie in Geschichte und Gegenwart, die mithilfe hermeneutischer und empirischer Untersuchungen die Facetten des Kontakts mit dem Fremden erarbeitet.
Die einführenden Kapitel 1-3 zeigen Anspruch, Grundlagen (1-21) und Methoden (22-30) auf und geben einen Abriss von Landeskunde und Geschichte des Jemen (31-34). Hauptkapitel 4 untersucht die Darstellung Südarabiens in der Literatur (35-175), Abschnitt 5 ist den Befragungen von Touristen und "Expatriates" (176-246) gewidmet. Literaturanalyse und Interviewauswertung werden im Kapitel 6 nochmals reflektiert und mit Edward Saids Orientalismus-These konfrontiert (247-263). Dem Anhang: Tourismus und Fragebogen (264-279) folgt eine umfangreiche systematisch gegliederte Bibliographie (280-313). Der abschließende Abbildungsteil enthält 31 Abbildungen sowie 5 Karten.
Willhardts analytischer Leitfaden sieht vor, kollektive Vorstellungen des Fremden kulturhistorisch einzuordnen, Vergleiche mit anderen Rezeptionsstudien zu ziehen und Kulturschockmodelle der Psychologie sowie Saids Orientalismus-Thesen zu verifizieren (III, 22). Der Jemen eigne sich als Fallstudie, so der Autor, aufgrund der Beispielhaftigkeit für Orient-Enthusiasmus und kulturelle Kontrasterlebnisse (1).
Zur Zeichnung des Südarabienbildes in der Literatur geht der Autor bis zur Darstellung in Bibel und Antike zurück (35-48). Die europäischen Reiseberichte, eingeteilt in die Zeit vor und nach der dänischen Expedition Carsten Niebuhrs (1761-1767) als erster Forschungsexpedition werden bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, dem Ende des Imamats und damit einer zögerlichen Öffnung auch für den Tourismus, ausführlich aufgelistet und in ihren relevanten Kernaussagen referiert (50-85). Niebuhrs sachliche und respektvolle Sichtweise mit Wertschätzung der fremden Kultur hebt sich oft von der anderer Autoren ab (unter anderem 65, 106, 109, 114, 119, 137, 146f., 157, 161f., 164). Bei den auf Niebuhr folgenden Reisen liegen Schwerpunkte auf der Entzifferung von Inschriften, botanischen und geographischen Forschungen sowie islamkundlichen Studien (68-80). Erst ab den 1930er Jahren ist ein Südarabien-Enthusiasmus zu verzeichnen, Autoren wie Freya Stark, Hans Helfritz, Wilfried Thesiger befördern eine Popularisierung des Jemen in der westlichen Welt (80-83).
Die folgende Analyse gliedert sich in drei Teile: Themen der Südarabienbeschreibung (86-104), Modi der Kulturbegegnung vom Unbekannten bis zum Vertrauten (130-167), die Tourismusära (168-175). Willhardt stellt fest, dass bekannte Phasenmodelle europäischer Kulturbegegnung hier nicht greifen (127). Die Saidschen Thesen sind nur in Einschränkungen nachweisbar wie die Abwertung des als wild dargestellten Orientalen, der dem zivilisierten Europäer unterlegen ist (99, 110f., 144, 147). Das mangelnde Wissen verhindert die Saidsche europäische Deutung der fremden Kultur (136). Eine Entzauberung findet nach Willhardt nicht statt, weil Südarabien "die Bühne" ist, "auf der der Reisende zum Helden wird" (136). Der "imaginierte Orient europäischer Literatur und Philosophie" ist in den Reisebeschreibungen nicht abgebildet (129). Der Jemen wird durchweg als terra incognita mit vielen Distanz schaffenden Attributen versehen und ist somit gleichzeitig Objekt der Begierde (132f.), die Entdeckung hat Priorität vor der (Kultur)begegnung (144).
Fazit ist, dass Südarabien bezüglich der Orientrezeption eine Sonderstellung einnimmt. Vor allem der romantisierende Aspekt fehlt in den frühen Reisebeschreibungen. Der eingangs angeführte Oriententhusiasmus trifft nicht auf die frühen Reiseberichte zu, sondern setzt erst Anfang des 20. Jahrhunderts ein. Für den heutigen Touristen unverständlich, dass frühe Hadramaut-Reisende wie Hirsch und Bent die Architektur der Stadt Schibam kaum erwähnen (91).
Die oft negative Meinung des Fremden über den Reisenden stützt nur das eigene Überlegenheitsgefühl anstatt Selbstkritik zu verursachen (160-164), so dass Identifikation oder gar Assimilation und Adaption in der ohnehin meist sehr distanzierten Kulturbegegnung nur in Ausnahmen zugelassen werden (164f.). Ein Zwischenfazit lautet: "Der Fremde bleibt i.d.R. fremd" (167) - auch wenn der Reisende als Verarbeitungsstrategie Eigenes und Vertrautes mit Fremdem identifiziert bzw. gleichsetzt (156-158), selbst jenseits jeder Realität. So vergleicht zum Beispiel Varthema die Hauptstadt Sanaa mit europäischen Städten, die Häuser seien nach "unserer Art" gebaut (157) - ganz im Gegensatz zur touristischen Differenzwahrnehmung heute: "Ich habe gedacht, ich springe in ein Bilderbuch." (197) Wenn sich auch die Reiseführer und neuere Jemenliteratur der Tourismusära seit den 1970er Jahren eher durch eine realitätsfremde Romantisierung denn Berücksichtigung moderner Entwicklung auszeichnen (169f., 175), so ist dieses Zitat dennoch nicht die Regel: Den Märchentopos der Reiseführer und Bildbände findet Willhardt in den Interviews nur zum Teil repräsentiert (219).
Willhardt hat sein weitgestecktes Ziel, "in Bezug auf interkulturelle Kontakte für die Vielschichtigkeit möglicher Erfahrungen und Bewertungen zu sensibilisieren, auf eigene Grenzen vorzubereiten, Kontinuitäten und Brüche der Wahrnehmung transparent zu machen und die historische Bedingtheit von Kulturbegegnung zu verdeutlichen" (263), durchaus erreicht - nebenbei ist ein Standardwerk zur Reiseliteratur zu Südarabien/ Jemen entstanden (35-175). Der Interviewteil (176-246) auf der Grundlage von 42 Befragungen unter Touristen, Reiseleitern und in der Mehrzahl "Expatriates" (siehe die Beweggründe auf Seite IV) ist ebenso gründlich und im Kontext der Literaturauswertung erarbeitet (247) und ausgewertet. Die Interviewstrategie wird jeweils ausführlich kommentiert, die Interviews werden sehr differenziert nach verschiedenen personen- sowie Orient- und landesspezifischen Kriterien ausgewertet (177). In beiden Hauptteilen folgt der Auswertung dominierender Topoi die Untersuchung allgemeiner Modi und Prozesse der Kulturbegegnung. Die abschließende Überprüfung der einzelnen Punkte der Saidschen Orientalismus-These zeigt, dass die Vielfalt der zeitlichen, textart- und personenspezifischen Kontexte nicht durch ein Modell abgedeckt werden kann. So werden die ohnehin erst im 19. Jahrhundert sichtbaren Diskurse "Unbekanntheit" und "Überlegenheit" mit Einschränkungen zugestanden (259f.). Der Orient als "Erfindung des Westens" ist aufgrund der Einbeziehung der Sichtweise arabischer Autoren korrekturbedürftig; Orientalismus-Elemente wie Exotisierung und Erotisierung sind nicht durchweg gegeben (260).
Kleine (Sach-)Fehler und Unstimmigkeiten können den Wert der Studie nicht schmälern: Ibn Battuta wird als Battuta zitiert (49); Weihrauch und Myrrhe sind Räucherharze, keine Gewürze (43); Philby's Sheba's Daughters werden verunstaltet (78 und 79), van der Meulen's Bericht heißt Hadramaut (H und d mit Unterpunkt). Some of its mysteries unveiled, weder reveiled (79) noch revealed (287).
Die beeindruckende Untersuchung ist trotz ihrer Dichte durch die detaillierte Darlegung von Vorgehensweise und Methoden transparent und in ihren immer wieder eingeschalteten kontrastiven Analysen des sehr umfangreichen Text- und Interviewmaterials nachvollziehbar. Entsprechend der in Kapitel 1.2 belegten multidisziplinären Einbettung kann sie Lesern aus ganz unterschiedlicher Perspektive nur empfohlen werden.
Hanne Schönig