Hans-Joachim Müller: Irenik als Kommunikationsreform. Das Colloquium Charitativum von Thorn 1645 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; Bd. 208), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 576 S., 15 Abb., ISBN 978-3-525-35860-3, EUR 79,00
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Was ist Irenik? Wie ist sie aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive zu beschreiben? Und schließlich: Welchen Erfolg hatten die irenischen Schriften, deren Autoren es sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts zur Aufgabe gemacht hatten, kontroverstheologische Disputationen hinter sich zu lassen und stattdessen das ausgewogene Religionsgespräch zu suchen, das von der Gleichberechtigung aller Gesprächspartner ausgeht? Diese Fragen stehen im Zentrum von Müllers umfangreicher Dissertation, die im Jahr 2000 abgeschlossen wurde. Vermittlungsformen theologischer Inhalte, Regelhaftigkeiten, Bedingungen und Freiräume in diesem Kommunikationsprozess sollen dabei an erster Stelle stehen. Damit werden die Streitgegenstände nicht obsolet, im Gegenteil: Die mikroskopische Fokussierung der Inhalte und ihre Rückbindung an das jeweilige gesellschaftliche und politische Umfeld versprechen - so Müller - einen "wesentlichen Erkenntnisgewinn" (18) für die genannten Fragen.
Mit dem 1645 in Thorn abgehaltenen Kolloquium sollte endgültig "Schluss [sein] mit dem Theologengezänk" (16). Polemik in der Disputation sollte zu Gunsten der modestia in Gesprächen zurückgedrängt werden, um so Verständigung zwischen Konfessionen zu ermöglichen. Dies war die Idee der Ireniker, die im Vorfeld des Thorner Colloquium Charitativum über Möglichkeiten und Grenzen eines Religionsgespräch nachdachten. Katholische, lutherische und reformierte Repräsentanten aus Kirche und Staat sollten hier an einem Tisch sitzen, um Einigung bei strittigen Lehrinhalten zu erzielen. Akribisch, mit großer Quellenkenntnis und gestützt auf deutschsprachige und polnische Forschungsarbeiten zeichnet Müller Vorbereitung und Durchführung des Colloquium Charitativum nach.
Ausgangspunkt sind dabei die Auseinandersetzungen zwischen dem Katholiken Valerian Magni und dem Protestanten Johann Amos Comenius, in denen Disputationen kritisch beleuchtet und neue Gesprächsnormen gefordert wurden, um Wahrheitsfindung zu ermöglichen (77-149). Gleichwohl entsprachen die daraus hervorgegangenen Vorschläge eher dem Regelwerk einer "sauber" geführten Disputation: Gute Kenntnisse und die Hilfe der Vernunft sollten dabei ebenso leitend sein wie Sorgfalt und Geduld bei der Entfaltung der Argumente. Seien andere Kommunikationsformen erwünscht oder erfordert, benötige man dafür eine andere Form der Wissenschaftlichkeit, um die eingeübten Verhaltensweisen zu verändern (134).
In seinen Überlegungen zu den Vorbereitungen des Kolloquiums (149-196) konzentriert sich Müller auf einzelne Protagonisten: Im Vordergrund stehen die Gespräche zwischen Valerian Magni, Johann Amos Comenius und dem 1641 zum Katholizismus konvertierten Bartholomäus Nigrin in den Jahren 1642/43, die für das Thorner Kolloquium richtungsweisend wurden. Sie zeigen eine "sanfte Streitkultur" (195), weil sie den Wahrheitsschutz durch Kontroverstheologie und Disputationen allein ablehnten. Gerade Comenius machte sich hierfür stark. Überdies forderte er ein ökumenisches Konzil zur Findung und Bewahrung der christlichen Wahrheit und empfahl, dem polnischen König in diesen Debatten eine leitende Funktion zuzugestehen, die Organisation des Kolloquiums also de facto in seine Hände zu legen.
Der polnische König füllte diese Funktion aus und zeigte damit, wie wichtig politische Akteure (etwa auch in Danzig und Königsberg) bei der Umsetzung irenischer Bemühungen waren, indem sie konfliktsteuernd eingriffen: So lud der polnische König zum Kolloquium ein und gab allen beteiligten Parteien Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg, die Müller ebenso wie die Gespräche und die theologischen und politischen Repräsentationen in Thorn umfassend darstellt (196-425). Gleichwohl kommt er am Ende zu einem ernüchternden Ergebnis: Zwar blieben die Parteien drei Monate lang miteinander im Gespräch, doch am Ende eskalierte der Streit auch innerhalb der Konfessionen. Allenthalben wurde die mangelhafte Erfahrung mit der mündlichen interkonfessionellen Auseinandersetzung sichtbar. Und auch das Disputationsverbot wurde nicht eingehalten. Vielmehr setzten die Konfessionen die Disputation schriftlich fort, galt doch "in der gelehrten Öffentlichkeit eine ausbleibende Antwort auf einen Widerspruch als Niederlage" (505). Müller belegt diese Einschätzung mit seinem Blick auf die Rezeption des Thorner Gesprächs in der Reichspublizistik, in Zeitungen und in der zunächst handschriftlichen Berichtsschrift aus Kreisen der Brüderunität in Großpolen. Der Streit weitete sich schließlich auf die deutschsprachigen Universitäten aus und mündete hier in einen Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen theologischen Fakultäten. Gegenstand des sich verschärfenden Streits waren nicht nur Auseinandersetzungen über die Begriffe "Toleranz" und "Synkretismus", sondern auch innerstädtische Konflikte, die Müller exemplarisch an der Ausgrenzung der Reformierten in Danzig festmacht.
Nah an den Ausgangsfragen der Studie ist das siebte Kapitel, das sich mit Theorien und Praktiken der Wahrheitsfindung und Wahrheitsgeltung befasst. Hier beleuchtet Müller allerdings nur kurz das Thorner Gespräch als Ausdruck einer "Kommunikationsreform" (515-523), nachdem er sich auch vorher auf einzelne Hinweise auf eine jeweils "theologische" oder "politische" Kommunikation beschränkt hat. Aus kommunikationsgeschichtlicher Perspektive will Müller erklären, ob das irenische Gesprächsangebot in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts scheiterte. Er kommt zu dem Schluss, dass die erhoffte "Kommunikationsreform" nicht stattgefunden habe (515), sie stellte dem entsprechend auch kein Thema in der Aufarbeitung des Kolloquiums dar. Gleichwohl - und hier versucht Müller, seine Fragen nachträglich zu legitimieren - enthalte Irenik Potenzial zur Reform der Gesprächssituation, denn grundlegend sei es, zur Wahrheit gelangen, dabei einen Konsens erzielen und dies im höflichen Umgang miteinander schaffen zu wollen. Comenius habe diesen Ansatz deutlich vorgeführt. Um das "theologische Kommunikationsgefüge" zu verändern, so Müllers Schluss, benötige die Irenik offenbar den Streit. "Wo er fehlte, mußte sie ihre Hoffnung auf bessere Zeiten vertagen." (523).
Insgesamt beeindruckt die Studie durch die minutiöse Aufarbeitung des Thorner Gesprächs. Die beteiligten Parteien, ihre Schriften, die Verschiebungen innerhalb der Argumentationsmuster und die politische Dimension der Auseinandersetzungen zeichnet Müller auf einer breiten Quellenbasis nach. Dabei bewertet er auch die Rolle Comenius' neu, dessen Beitrag in der polnischen Toleranzdebatte gegenwärtig noch unterschätzt werde. Die Problematik der Studie liegt hingegen in der benutzten Begrifflichkeit: (politische und theologische) Öffentlichkeit, Kommunikationsreform, Kommunikationsformen. Während Müller im höchsten Maße plausibel Toleranz, Irenik und Synkretismus voneinander abgrenzt und in ihren wortgeschichtlichen sowie frühneuzeitlichen Kontext stellt, bleiben die Analysebegriffe unscharf. Dies mag auch erklären, dass sie in der sehr dichten, quellengestützten Darstellung einen eher marginalen Gebrauch erfahren und in den einleitenden Passagen nicht explizit thematisiert werden. Doch ungeachtet dessen hat Müller mit seiner Studie einen gewichtigen Beitrag zu den irenischen Bemühungen des 17. Jahrhunderts geleistet.
Nicole Grochowina