Johannes Burkhardt / Hildegard Gantner-Schlee / Michael Knierim (Hgg.): Dem rechten Glauben auf der Spur. Eine Bildungsreise durch das Elsaß, die Niederlande, Böhmen und Deutschland. Das Reisetagebuch des Hieronymus Annoni von 1736, Zürich: TVZ 2006, 342 S., ISBN 978-3-290-17373-9, CHF 47,80
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Zu Pferd, mit Extrapost oder Retourkutsche, mit Flussschiffen und von Pferden getreidelten Booten reiste er aus der Schweiz über das Elsass, passierte Speyer, Heidelberg und Mannheim und überquerte manches Gewässer mit 'fliegenden Brücken' (Fähren). Das enge Rheintal zwischen Bingen und Koblenz befand er als wenig erquicklich, und das katholische Köln betrachtete er mit distanziert-ironischer Neugier. In den Niederlanden ließ er sich von der Vielfalt der religiösen Strömungen inspirieren, während der Anblick des offenen Meeres ihn irritierte. In Prag genoss er böhmischen Wein und beklagte die Auswirkungen des Katholizismus für diese Stadt: "So macht die edle Pfafferei / Ein Land von Geld und Gästen frei / Und frißt den besten Haberbrei." (247) Hieronymus Annoni (1697-1770), pietistischer Theologe aus Basel, verfasste das Tagebuch einer Reise, die er 1736 als Mentor der Jurastudenten Hans Ulrich Hegner (1718-1786) und Bernhardin Im Thurn (1718-1778) durchführte. Die Kosten dieser Reise stellte er in einem gesonderten Kassenbuch zusammen. Beide Dokumente verwahrt die Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel im Nachlass Annonis. Kassen- und Reisetagebuch haben die Annoni-Spezialistin Hildegard Gantner-Schlee und die beiden Historiker Johannes Burkardt und Michael Knieriem jüngst herausgegeben und ausführlich und sorgfältig kommentiert.
Reiseberichte aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind weitaus seltener ediert als solche aus späterer Zeit. Umso mehr Aufmerksamkeit verdient die Arbeit der Herausgeber. Schließlich erinnern Schriften wie die Annonis daran, dass nicht erst die Epochenschwelle um 1800 oder gar die Industrialisierung geographische und mentale Mobilität hervorbrachte. Außerdem zeigt ein solcher Text, dass sich Pietisten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Welt mit offenem Blick näherten - Ähnlichkeiten mit zeitgenössischen aufklärerischen Wahrnehmungs- und Denkweisen drängen sich auf.
Annoni begleitet seine beiden Schüler auf deren Bildungsreise zu einer Vielzahl von Sehenswürdigkeiten. Er nennt und beschreibt Städte, Schlösser, Kirchen und Klöster, und manchmal bewertet er das Gesehene auch. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht aber die Visite von religiös gleich oder ähnlich Gesinnten, ein Schwerpunkt des Tagebuchs bildet das Zusammentreffen mit Zinzendorf und die Beschreibung des religiösen Alltags in Herrnhut. Die Debatte mit ihnen, die jeweiligen Thesen und Argumente verzeichnet der Autor knapp und prägnant. Gern besuchen die Schweizer Reisenden auch an den verschiedenen Orten weilende Landsleute. Auch nicht-protestantische, gelegentlich selbst nicht-christliche religiöse Praktiken geraten - aus ethnographischem Interesse - ins Reiseprogramm. Im Rheintal und in den Niederlanden trifft Annoni auf Auswanderer auf dem Weg nach Amerika, schreibt anschaulich von deren psychischem und physischem Elend und deutet das "jämmerliche[.] spectacul" tropologisch: als "lebendige Probe, wie sehr das Verlangen nach Reicher- und Vornehmerwerden die Menschen verderben könne" (124). Den Wortlaut einer Trost- und Bußpredigt, die er vor der Abfahrt eines Auswandererschiffes hält, fügt er in das Tagebuch ein. Andere Einfügungen sind Aussprachen religiös Erweckter, Briefe von und an Zinzendorf, diverse Kopien von Inschriften und gelegentlich kommentierende, oft erbauliche Verse.
Das Tagebuch wurde in seiner Zeit nicht publiziert und erhebt keinen literarischen Anspruch. Es ist zudem nicht als Rechenschaftsbericht für die Eltern der beiden Studenten gedacht: Die Gemeinschaft der Reisenden spielt schließlich kaum eine Rolle, und darüber, wie Annoni seine jungen Begleiter bildet und beaufsichtigt, schweigt sich der Text aus. Die Herausgeber sehen dieses Journal im Kontext des pietistischen Bedürfnisses, "das eigene Tun und Lassen stets prüfend zu reflektieren und schriftlich festzuhalten." [1] Im Vordergrund steht hier allerdings eindeutig die Bilanzierung der äußeren Ereignisse. Diese werden zwar gelegentlich ironisch oder erbaulich kommentiert und knapp bewertet. Aber eine Reflexion des Erlebten fehlt nahezu vollständig. Auch von Glaubenszweifeln, Reisekrankheiten oder Stimmungsschwankungen erfahren wir nichts, und über die Schwierigkeiten des Reisens in der Frühzeit der Mobilität äußern sich andere Autoren - auch vor Annoni - weitaus anschaulicher: Von Radbrüchen, Überfällen, umgekippten Kutschen oder auf stürmischem Gewässer schwankenden Booten sind Annoni und seine Begleiter verschont geblieben, oder der Autor hält solch kleinere Begleiterscheinungen des Reisens für nicht weiter erwähnenswert.
Insofern liest sich dieses Reisetagebuch ein wenig zäh: Wer einen literarischen Reisebericht erwartet oder gar eine Reise in die Psyche des Autors oder in seine religiösen Erlebniswelten, wird bitter enttäuscht. Annoni ist noch ganz trockener 'Buchhalter seines Reisens'. [2] Doch mit der Stoffmenge, die der Autor festhält, kann dieses Journal die Frühneuzeitforschung ungemein bereichern: Die drei Reisenden haben eine Fülle von kultur- und religionsgeschichtlich hochinteressanten Personen besucht - das vorbildliche Register erlaubt, die Hinweise auf diese im Einzelnen schnell zu erschließen: So ist das Tagebuch für Herrnhut-Forscher eine reichhaltige Fundgrube. Wer sich für das Erscheinungsbild etwa der Orte Colmar, Straßburg, Heidelberg, Köln, Duisburg, Delft, Leipzig oder Halle am Anfang des 18. Jahrhunderts interessiert, findet bei Annoni reichlich Beschreibungen, auch hier erleichtert ein Register das Auffinden.
Für die in jüngster Zeit im Rahmen einer Kulturgeschichte der Religion immer wieder geforderten Netzwerkstudien [3] ist Annonis Tagebuch, das das umfangreiche Besuchsprogramm der drei Schweizer Pietisten protokolliert, eine aufschlussreiche Quelle. Wenn Michael Maurer überzeugend für eine 'Konfessionsgeschichte des Reisens' [4] plädiert - aus literaturwissenschaftlicher Sicht wäre zu ergänzen: eine Konfessionsgeschichte von Reisebeschreibungen -, liegt mit dieser Publikation ein wichtiger Baustein dazu vor. Es steht auch zu hoffen, dass dieses Journal einer pietistischen Bildungsreise Forschungen zum - nicht strikt gegensätzlichen - Verhältnis von Pietismus und Aufklärung anregt.
Ein klein wenig fragwürdig erscheint an diesem sorgfältig edierten und kommentierten Band nur der Titel, den die Herausgeber über ihr Werk gesetzt haben: "Dem rechten Glauben auf der Spur" scheint mir Annoni beim Reisen nicht zu sein. Schließlich dokumentiert das Reisetagebuch nicht die Suche nach dem rechten Glauben. Auf der Spur sind Annoni und seine beiden Begleiter den unterschiedlichsten Glaubensformen, die Annoni mit wachem, aufgeschlossenem und kritischem Geist beobachtet und protokolliert. Man kann erwarten, dass er über die verschiedenen Wege, auf denen Menschen versuchen, selig zu werden, nachgedacht hat, aber Spuren einer solchen Reflexion finden sich in seinem Tagebuch nicht.
Anmerkungen:
[1] Hildegard Gantner-Schlee: Einleitung, in: Dem rechten Glauben auf der Spur, 9-18, hier 10.
[2] Vgl. Benigna von Krusenstjern: Buchhalter ihres Lebens. Über Selbstzeugnisse aus dem 17. Jahrhundert, in: Das dargestellte Ich, hg. v. Klaus Arnold et al., Bochum 1999, 139-146.
[3] Vgl. dazu demnächst Mirjam de Baar: Internationale und interkonfessionelle Netzwerke. Zur frühen pietistischen Rezeption von Anna Maria van Schurman und Antoinette Bourignon, in: Gendering Tradition, hg. v. Ulrike Gleixner und Erika Hebeisen, im Erscheinen begriffen.
[4] Michael Maurer: Konfessionsgeschichte des Reisens - ein Desiderat, in: Neue Impulse der Reiseforschung, hg. v. Michael Maurer, Berlin 1999, 351-354.
Eva Kormann