Isabella Tsigarida: Solon - Begründer der Demokratie? Eine Untersuchung der sogenannten Mischverfassung Solons von Athen und deren "demokratischer" Bestandteile (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1031), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 169 S., ISBN 978-3-03911-140-4, EUR 35,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Daniel Ogden: Drakōn. Dragon Myth and Serpent Cult in the Greek and Roman Worlds, Oxford: Oxford University Press 2013
Leonhard Burckhardt / Klaus Seybold / Jürgen von Ungern-Sternberg (Hgg.): Gesetzgebung in antiken Gesellschaften. Israel, Griechenland, Rom, Berlin: De Gruyter 2007
David M. Lewis: Greek Slave Systems in their Eastern Mediterranean Context, c.800-146 BC, Oxford: Oxford University Press 2018
Gegenstand des Buches sind die politischen Reformen Solons. Zentrale Quellen, also die Kapitel 5-12 der aristotelischen Athenaion Politeia, die Solon-Vita Plutarchs, insbesondere aber die politischen Elegien Solons (F 4 und 36 West), werden unter der Fragestellung ausgewertet, "ob die Umsetzung seines politischen Ideals bereits als Demokratie bezeichnet und er [sc. Solon] demnach als Begründer der Demokratie angesehen werden kann" (7). Tsigarida bejaht diese Frage. Zwar habe der Adelsstaat faktisch weiter fortbestanden, doch sei politischer Einfluss nicht mehr allein an adelige Herkunft gebunden gewesen. Mit Solon sei das Fundament der Demokratie gelegt worden, da seine Elegien die Grundidee des Bürgerstaates formuliert hätten. Mit der politischen Aktivierung der Bürger habe Solon die Demokratie in Athen begründet.
Schon im methodischen Ansatz zeigt sich die Problematik des Buches. Dass Solon wichtige Voraussetzungen geschaffen hat, die den Weg zur Demokratie ebneten, bestreitet niemand. Trotzdem sollte mit dem Begriff Demokratie vorsichtiger umgegangen werden. Eine fundierte theoretische Diskussion findet jedoch nicht statt.
In vieler Hinsicht genügt das Buch wissenschaftlichen Standards nicht. Allzu häufig beruft sich Tsigarida lediglich auf Lexikonartikel, wobei nicht durchgängig 'Der Neue Pauly', sondern vielfach Artikel im 'Kleinen Pauly', aus dem 'Tusculum-Lexikon griechischer und lateinischer Autoren' oder aus dem 'Lexikon der antiken Mythen und Götter' von M. Grant und J. Hazel herangezogen werden. Darüber hinaus basiert die Arbeit auf Überblicks- und Studienliteratur, so dass Tsigarida zu wissenschaftlichen Diskussionen nicht vorstößt. Kontroverse Standpunkte, wie sie in den Kommentaren von M. Chambers und P. J. Rhodes aufgezeigt werden, referiert Tsigarida lediglich. Das Gleiche gilt für die zentralen Quellen, die keiner soliden philologischen Analyse unterzogen werden.
Angesichts dessen erstaunt es nicht, dass zahlreiche sachliche Fehler anzumerken sind. Nach Darstellung Tsigaridas hätten die Phratrien im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. "bestimmte gesetzlich festgelegte Funktionen" erhalten, "wie die Führung der Bürgerlisten" (35). Zwar haben die Hausväter ihre Kinder der Phratrie vorgestellt und durch ein Opfer als legitime Kinder ausgewiesen, doch die Bürgerlisten sind in klassischer Zeit allein in den Demoi geführt worden. Ob die Adeligen in den Phylen und Phratrien "ungehemmt ihre Macht ausüben" konnten, ist eine auf reiner Spekulation beruhende Feststellung, die keine Grundlage in den Quellen findet (35). Tsigarida sieht den Umstand, dass sich Athen nicht an der Kolonisation beteiligte, darin begründet, dass der Stadt die Erträge aus den Silberminen im Laureion zur Verfügung standen (40) - eine anachronistische Konstruktion, da die Ausbeutung der Minen erst am Anfang des 5. Jahrhunderts größere Bedeutung gewann. In der Feststellung, Bauern hätten versucht, ihre Existenz zu sichern, indem sie u.a. ledige Schwestern und Töchter ins Bordell verkauften und alten und unnütz gewordenen Familienmitgliedern die Nahrung verweigerten (40), folgt Tsigarida unkritisch veralteten Positionen von E. Ruschenbusch. Unzutreffend ist ebenfalls die Würdigung des Rechts Drakons, der mitnichten das altüberkommene Recht kodifiziert und dabei den Gerichtszwang eingeführt hat (56), sondern lediglich ein Gesetz über die Tötung festgeschrieben hat, in dem minder schwere Fälle von der Blutrache ausgenommen waren und eine Befriedung durch Versöhnung (Aidesis) erreicht werden sollte. Die Annahme, Solon habe mit seinem "Einbürgerungsgesetz" die Verleihung des athenischen Bürgerrechts an Zusiedler beschränken wollen, verkennt den Umstand, dass in der Zeit Solons das Bürgerrecht noch nicht rechtlich gefasst war, sondern Zugehörigkeit zur Gemeinschaft in Kategorien der Ehre und Ehrlosigkeit gedacht wurde. Auch kann die Knappheit des Bodens kaum der Grund für eine solche Beschränkung gewesen sein (93), wie die Forschungen von H. Lohmann zum Demos Atene gezeigt haben.
Solche eklatanten sachlichen Fehler sind gepaart mit einer völlig unangemessenen Begrifflichkeit, so wenn Tsigarida von den "im Kapital steckenden Verwendungsmöglichkeiten" (41) spricht und vermutet, dass sich die Adligen aufgrund einer Begrenzung des Landerwerbs andere Möglichkeiten gesucht hätten, "um überschüssiges Kapital anzulegen" (92). Für die Zeit Solons postuliert Tsigarida einen beginnenden "ökonomischen Strukturwandel von einer autarken Oikoswirtschaft zu einer auf Leistung und Konkurrenz basierenden, gewinn- und marktorientierten Verkehrswirtschaft" (40). In solchen Äußerungen zeigt sich, dass Tsigarida mit grundlegenden Strukturen antiker Wirtschaft nicht vertraut ist. Wenn Tsigarida ausführt, dass die Anhänger Kylons im Heiligtum der Athena Polias auf der Akropolis "Asyl in Anspruch genommen hatten" (49), beweist dies, dass sie den Unterschied zwischen Hikesie und Asylie nicht kennt. Die Feststellung, Solon habe "keine geschriebene Verfassung, d.h. ein Gesetzbuch im eigentlichen Sinne (z.B. verfassungsgebendes Grundgesetz)" erlassen (69), versteht sich von selbst, da diese Begrifflichkeit für das frühe 6. Jahrhundert unangemessen ist.
Insgesamt bleibt festzustellen, dass dieses Buch keinerlei die Forschung weiterführende Ergebnisse bietet, zahlreiche sachliche Fehler aufweist und sich einer dieser Zeit unangemessenen Begrifflichkeit bedient.
Winfried Schmitz