Rezension über:

Friedrike Föcking: Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 73), München: Oldenbourg 2007, IX + 556 S., ISBN 978-3-486-58132-4, EUR 74,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Marcel Boldorf
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Marcel Boldorf: Rezension von: Friedrike Föcking: Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, München: Oldenbourg 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/12715.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Friedrike Föcking: Fürsorge im Wirtschaftsboom

Textgröße: A A A

Einleitend skizziert Friederike Föcking die Grundlagen der bundesdeutschen Fürsorgepolitik, d.h. einen Zustand der Zersplitterung, der sich von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis zum In-Kraft-Treten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) hinzog. Mit einem Blick auf den Wirtschaftsaufschwung der fünfziger Jahre stößt sie zu ihrem eigentlichen Thema vor: Die umfassende Reform des Fürsorgerechts fand unter günstigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen statt, sprich anhaltenden Lohnsteigerungen und Vollbeschäftigung. Von allen Seiten wurde erwartet, dass die Basissicherung der Fürsorge gegenüber anderen Teilen des Sozialleistungssystems dauerhaft in die Position der Nachrangigkeit zu verweisen sei.

Durch Arbeitsintegration und Ausbau eines Versorgungssystems, das die sozialen Kriegslasten beseitigte, streifte die Fürsorge ihre Position als "Lückenbüßer" ab, in die sie seit der unmittelbaren Nachkriegszeit gedrängt war. Nachdem die Zahlen der Fürsorgeempfänger während der fünfziger Jahre erfolgreich gesenkt wurden, verharrte die kommunale Fürsorge als "lästiges Überbleibsel" (Hans Achinger) in der Defensive, weil sich immer wieder starke Beharrungskräfte gegen die zentralisierenden und vereinheitlichenden Pläne formierten. In pfadabhängiges Traditionsdenken verwurzelt, stemmten sich der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge sowie die kommunalen Spitzenverbände, besonders der christdemokratisch dominierte Deutsche Landkreistag, gegen sozialreformerische Projekte. Immer wieder wurde die drohende Gefahr des Versorgungsstaates heraufbeschworen, der in die Nähe des Staatssozialismus gerückt wurde. Federführend im Reformkurs, der sich dagegen behauptete, war die Abteilung Sozialpolitik des Bundesinnenministeriums, die 1958 einen ersten Referentenentwurf vorlegte.

Danach intensivierten sich die Auseinandersetzungen um die Fürsorgereform. An diesem Punkt setzt Föckings zweiter Teil an, der mehr als der erste Abschnitt auf Archivmaterial zurückgreift. Die detailreiche Darstellung rückt die Aushandlungsprozesse der unterschiedlichen Akteure in den Mittelpunkt. Sie stritten um die wesentlichen Inhalte der Fürsorgepolitik, wobei Föcking stets auch der Diskussion von Handlungsalternativen Beachtung schenkt. Einzelaspekte der Debatte drehten sich um: (a) die Entdiskriminierung der Fürsorge, die dann zu ihrer programmatischen Umbenennung in Sozialhilfe führte, (b) das Zugeständnis eines gerichtlich einklagbaren Rechts auf Fürsorge, wobei die gesetzliche Regelung von Art und Maß der Fürsorgeleistungen umstritten blieb; hier lebte der alte Konflikt von 1924 um die Reichsgrundsätze fort, (c) die Erweiterung der Fürsorge um Hilfen in besonderen Lebenslagen, die u. a. zur Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit, zur gesundheitlichen Prophylaxe oder zur Erlangung einer Unterkunft befähigen sollten. Die Zielgruppe für diese Eingliederungshilfen war nicht allein die unterstützte Bevölkerung, sondern sie sollten allgemein einkommensschwachen Bevölkerungsschichten zugute kommen. Ferner umfasste der Leistungskatalog den Ausbau der Alten- und Krankenpflege sowie kostenintensiver Rehabilitationsmaßnahmen, die für eine Arbeitsaufnahme unerlässlich sein konnten. Gerade die letztgenannten Bereiche führten zu einer Ausdehnung der Sozialhilfeleistungen und -empfänger nach 1961. Föcking beschreibt die Vielzahl von Implikationen in dem rechtlich höchst differenzierten Politikfeld. Das Buch schließt mit der parlamentarischen Debatte des Gesetzeswerkes sowie einem "Nachspiel" vor dem Bundesverfassungsgericht, dessen Urteil für eine Klärung der Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips sorgte.

Abschließend würdigt Föcking das BSHG als ein Gesetzeswerk, das dem sozialreformerischen Impetus der Adenauer-Ära ein Ende setzte. Die Wirkungsgeschichte des Gesetzes wird angedeutet, d.h. die Probleme, die sich daraus ergaben, dass das Gesetz vierzig Jahre fast unverändert Gültigkeit behielt. Ab Mitte der siebziger Jahre trat die Sozialhilfe aus der Nachrangigkeit endgültig heraus und wurde erneut zum Instrument zur Behebung von Massennotständen. Die Fürsorge belasteten vor allem Problemfelder wie die Aussteuerung der Langzeitarbeitslosen aus der Sozialversicherung, die ungenügenden Altersrenten für Frauen sowie die fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten für Alleinerziehende. Bereits ein gutes Jahrzehnt nach seinem Erlass befand sich das BSHG wieder in der Position, als Notanker für wachsende Teile der Bevölkerung zu dienen. Sozialhilfe wurde daher zur bedeutendste sozialen Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung.

Auch aus diesem Blickwinkel ist die Lektüre des Buches interessant: Die Diskussionen der fünfziger und frühen sechziger Jahre antizipierten nur ausnahmsweise Argumente, die dann in der Wirkungsgeschichte des Gesetzes relevant wurden. Zu sehr vertrauten die Sozialreformer dieser Zeit auf die endgültige Überwindung der Armut als Massenphänomen. Insgesamt stellt Föckings Buch einen wesentlichen Baustein hinsichtlich des Desiderats einer Sozialgeschichte der Armut in der Bundesrepublik dar, wobei ihre Betrachtungen freilich stark auf die rechtlich-organisatorische Seite fokussieren.

Marcel Boldorf