Heike Trost: Die Katharinenkirche in Lübeck. Franziskanische Baukunst im Backsteingebiet. Von der Bettelordenarchitektur zur Bürgerkirche (= Franziskanische Forschungen; Heft 47), Kevelaer: Butzon & Bercker 2006, 309 S., ISBN 978-3-7666-2106-1, EUR 38,00
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Die weithin sichtbare Katharinenkirche in Lübeck gehört zu den singulären Bauten der Franziskanischen Baukunst in Deutschland. In der bisherigen kunsthistorischen Literatur fristete die in den beiden Weltkriegen weitgehend unbeschädigt gebliebene mittelalterliche Klosterkirche allerdings eher ein Schattendasein neben der mächtigen Marienkirche.
Heike Trost hat sich nun vorgenommen, St. Katharinen aus dieser Grauzone herauszurücken. Die von der Verfasserin im Jahre 2004 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn als Dissertation eingereichte Arbeit überzeugt durch die Hervorhebung der Katharinenkirche als Großbau von einzigartiger und bislang nur wenig beachteter Ausprägung. Neben der Lübecker Marienkirche, dem Dom und den Pfarrkirchen der vier Kirchspiele übertrifft die Franziskanerkirche die Mehrzahl der Pfarr- und Klosterkirchen der Travestadt durch ihre stattlichen Ausmaße und ihre beachtliche Länge von siebzig Metern. Markante Bauelemente wie ein doppelgeschossiger Chorbau, ein nahezu seitenschiffbündig fluchtendes Querhaus, die für Franziskanerkirchen ungewöhnliche Abfolge offener Strebepfeiler und eine Dreiportalanlage in der Westfassade weisen die Katharinenkirche als individuellen, überregional bedeutenden Ordensbau der Lübecker Kunstlandschaft aus.
Im ersten Drittel ihrer in neun Kapitel aufgeteilten Studie präsentiert die Autorin umfassend und gut verständlich den bisherigen Forschungsstand zur Architektur des Katharinenklosters und verweist auf die Quellenlage zur Baugeschichte von Kirche und Kloster im Mittelalter. Fundiert und übersichtlich zeichnet sie die historische Entwicklung des Franziskanerordens, seine ordensimmanenten Grundlagen und die Rolle der Minderbrüder in der Lübecker Gesellschaft auf. Auch die politischen Verhältnisse zwischen dem großenteils mit dem Lübecker Bürgertum verbündeten Franziskanerorden und seine intensiven Auseinandersetzungen mit dem Bistum sowie dem städtischen Klerus werden treffend und eindrücklich dargestellt.
In den drei folgenden Kapiteln würdigt Trost anhand von detaillierten Bauuntersuchungen, gründlichen Mauerwerksanalysen und erstmaligen Einmessungen der Chorsubstruktionen sowie dendrochronologischen Analysen der Dachgeschossbalken bisherige wissenschaftliche Erkenntnisse, vermittelt jedoch auch neue Informationen zur feinchronologischen Abfolge des Bauablaufs. So rekonstruiert sie schlüssig diverse Planänderungen und längere Bauunterbrechungen. Entsprechend rekapituliert die Verfasserin zunächst den relativen Bauverlauf, der sich in zwei größere Bauabschnitte, die Errichtung von Chor und Querschiff, aufgliedert. Diesen zwei Bauetappen schließt Trost eine feinchronologische Bauanalyse an, die vor allem für den ersten Bauabschnitt maßgebliche Erkenntnisse enthält, so beispielsweise Planänderungen wie etwa die Integration von Kapellenräumen während des Chorbaues.
Die Fertigstellung der Rohbauarbeiten von Chor und Querhaus muss entsprechend dem dendrochronologisch ermittelten Datum der Chor- und Querhausbalken im ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts erfolgt sein. Nachdem die Bauarbeiten allerdings aus wirtschaftlichen Gründen und infolge ernsthafter politischer Auseinandersetzungen zwischen den Franziskanern und dem Lübecker Bischof einschließlich des von ihm über die Minoriten verhängten Interdikts für längere Zeit eingestellt werden mussten, nahm der Orden die Bautätigkeiten an St. Katharinen offenbar erst in der Mitte der Vierzigerjahre wieder auf. Das im Westen an Chor und Querhaus anschließende dreischiffige und fünfjochige Langhaus und die imposante Westfassade müssen nach dieser längeren Bauunterbrechung dann relativ zügig errichtet worden sein. Im Jahr 1356, dem Jahr des ersten Lübecker Hansetages wie auch "dem Jahr eines reich besuchten Provinzkapitels der Franziskaner in der Travestadt" (159), dürfte dieser zweite große Bauabschnitt abgeschlossen worden sein.
Auch die Vorbildfunktionen umliegender Kunstlandschaften und bedeutender Sakralbauten, so etwa der Mutterkirche des Franziskanerordens, San Francesco in Assisi, oder der gleichnamigen italienischen Ordenskirchen in Bologna und Piacenza, sowie der formale Einfluss weiterer Bettelordenskirchen im regionalen und überregionalen Umfeld werden differenziert herauskristallisiert und analysiert. Selbst der kathedralgotische Formenapparat französischer Provenienz und der Musterbau der ortsinternen Marienkirche werden überzeugend als Leitmotiv für das Repertoire der Katharinenkirche, so beispielsweise die Gestaltung der Querhausfront oder auch die Dreiportalanlage in der Westfassade, dargestellt. Die architektonische Formgebung repräsentiert somit den politischen Anspruch des Klosters im Sinne der Integration des bürgerlichen und des franziskanischen Bauprogramms, wie es im frühen 14. Jahrhundert gegen die bischöfliche Wirkmacht realisiert worden ist. So dürfte das kathedralgotisch orientierte Formenrepertoire der Katharinenkirche nicht zuletzt durch diese politisch gesellschaftlichen Verbindungen des Franziskanerordens motiviert worden sein. In diesem Sinne erhebt sich gegenüber dem "franziskanisch-autonomen" doppelgeschossigen Chor als Zitat der franziskanischen Mutterkirche im Osten des Baukörpers die mit ihren "profanen Gliederungen" (159) ausstaffierte Westfassade einer Bürgerkirche.
In den letzten Kapiteln der Arbeit wird auch ein Überblick über das nachmittelalterliche und weitere Schicksal der Katharinenkirche nach der Vertreibung der Franziskaner in der Reformationszeit und den nachfolgenden Jahrhunderten gewährt. Mittels konzentrierter Zusammenfassungen schließt die Autorin die einzelnen Kapitel ihrer Studie ab.
Trotz der diversen überzeugenden und präzisen bauanalytischen Forschungsergebnisse liest sich die vorliegende Arbeit vor allem in dem mittleren Teilbereich über die Bauchronologie der Kirche streckenweise etwas mühsam. Die teilweise sehr ausgedehnt behandelten Detailfragen werden oftmals nur additiv aneinander gefügt, ohne dass daraus in jedem Fall innovative Ergebnisse resultieren. Auch wird nach dem interessanten vorausgehenden Kapitel über die politische Entwicklung der Franziskaner in Lübeck und die Rolle der Minderbrüder in der Lübecker Gesellschaft zwar der Bau der Katharinenkirche selbst durch eine kurze Vorstellung der Grundrissgeometrie charakterisiert; doch fehlt eine vermittelnde Überleitung vom politisch historisch zum bauanalytisch strukturierten Kapitel mittels einer deskriptiven lebendigen Präsentation des Kircheninneren. So lässt sich eine eindrückliche Beschreibung der individuellen Raumwirkung, wie sie der Besucher etwa beim Betreten der Kirche unmittelbar erfährt, hier vermissen. Auch das im Anhang beigefügte Bildmaterial klärt die Sachverhalte nicht für jede bauanalytische Fragestellung ausreichend. Die Erscheinungsform einiger Forschungsergebnisse bleibt daher gelegentlich der Vorstellungskraft des Lesers überlassen, da es stellenweise an genügend begleitendem fotografischem Material fehlt.
Im Gesamteindruck handelt es sich bei der vorliegenden Monografie von Heike Trost jedoch um eine umfassende, diszipliniert ausgearbeitete und wissenschaftlich fundierte Studie auf neuestem Stand. Sie bietet einen prägnanten Überblick über die Geschichte und Baugeschichte des Klosters und seine kunsthistorische Einordnung in die komplexen wechselseitigen Einflüsse zwischen regionaler und ordensinterner Baukunst, der auch die architektonischen Bauanalysen mit den politischen und sozialen Entwicklungen der Hansestadt glücklich miteinander kombiniert. Die verdienstvolle Neuerscheinung von Heike Trost rückt somit einen weiteren eindrucksvollen und bedeutenden Lübecker Sakralbau an die Seite der imposanten Marienkirche.
Ulrike Gentz