Felix Krämer: Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900 (= 3), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 262 S., ISBN 978-3-412-03506-8, EUR 34,90
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Felix Krämer setzt sich in seiner glänzend geschriebenen Darstellung anhand von sechs ausgewählten Interieurs französischer und skandinavischer Maler mit dem Thema des Interieurs um 1900 auseinander. Ausgangspunkt ist dabei die Tendenz zum bürgerlichen Rückzug ins Heim am Ende des 19. Jahrhunderts. Dieses "idealisierte Heiligtum" offenbart dann allerdings verstörende und unheimliche Seiten, die sich in zwischenmenschlichen Spannungen und Konflikten entladen. Krämers erklärtes Ziel ist es, die destabilisierenden Tendenzen zu analysieren und ihre sozialen, historischen, psychologischen und ästhetischen Bedingungen aufzuzeigen. Dabei dient ihm Freuds Interpretation des Unheimlichen als Basis für die Analyse.
Paul Signacs "Opus 201: Ein Sonntag" (1888/90) wird unter der Überschrift "Ort der Langeweile" analysiert. Der heimelige, vor äußeren Gefahren abgeschottete und mit Objekten voll gestopfte Innenraum wird zum beklemmenden Ort unterdrückter Konflikte. Krämer legt dar, dass es dem Anarchisten Signac um den Verweis auf gesellschaftliche Verhältnisse ging. Als Konfliktparteien stehen weibliche Häuslichkeit/Interieur gegen männliche Mobilität/revolutionierende männliche Öffentlichkeit. Das von äußeren Konflikten "belagerte" Interieur wird als Ort innerer Spannungen offenbar, was dem Titel "Ort der Langeweile" wohl eher widerspricht.
Als "Ort der Einsamkeit" analysiert Krämer Edvard Munchs in Paris entstandenes Gemälde "Nacht" (1890). Hier sind Innenschau und emotionaler Gehalt zentral. Innenräume können dabei als Orte der Einsamkeit, keinen Schutz bietend, zu "Angst-Räumen" werden. Der "moderne Seelenspuk" (80) hat seine Ursache in dem nervösen Erleben der Großstadt und auch die Wohnung ist kein Ort der Ruhe und Stabilität mehr. Bei Munch verband sich sein Interesse an Neuro-Psychologie mit dem am Okkulten, wie beispielsweise der Geisterfotografie. Krämer weist hier auf die "seltsame Belebung des Innenraumes" bei "Nacht" hin: Der "private [...] Raum [wird] als Ort der Introspektion, in dem verborgene Stimmungen, Ängste und Ahnungen zum Vorschein kamen" erkennbar (94).
Einen "Ort der Auflösung" stellt für Krämer Edouard Vuillards Gemälde "Salon Natanson" (1897/98) dar. Vuillard, der "Intimist", zeigt ein räumliches und psychisches Innenleben, in dem "auch zutiefst verstörende Erfahrungen" (113) hervorgelockt werden können. Wie in seinen Bühnenbildern zeigt sich die "Präsenz des Menschen inmitten sich überlagernder Formen und Farbnuancen stets seltsam ambivalent" (117). Kleine Dramen spielen in den Interieurs, die "ein 'Gefühl des Unbehausten und Bedrohlichen'" (118) kennzeichnet. Den zeitgenössischen Schauspielern oder Charcots Hysterikerinnen vergleichbar, zeigen die Personen marionettenhafte Haltungen. Krämer resümiert, dass in Vuillards Bildern das Interieur die Personen dominiert. Die Räume werden zu "seltsam belebten Fallen" (122).
Unter dem Titel "Ort der Heimlichkeit" setzt sich Krämer mit dem Gemälde "Das Rote Zimmer" von Félix Valloton (1898) auseinander. Farbwahl und interieurtypische Voyeurssituation suggerieren eine nichteheliche Beziehung der beiden Dargestellten. Diese bleiben "merkwürdig 'gesichtslos'" (132) und das übrige Arrangement, mit dem die Menschen eng verzahnt sind, ist bühnenbildhaft. Auf dem Tisch abgelegte Gegenstände ähneln einem Hampelmann, was der Mann für die als amoralisch verschriene Frau sein soll. Die Initiative zur Verführung geht bei Vallotton von ihr aus. "Niedere Beweggründe [motivieren die] Protagonisten zu ihrem Handeln" (142). Die sorgsam abgeschirmte Wohnung wird so zum "Kampfplatz der Geschlechter". Hinter der Fassade bürgerlicher Normen und Werte wird eine "schale 'Komödie von Eifersucht und Betrug' aufgeführt" (152).
Mit der "Ort der Stille" betitelt Krämer die Analyse zu Vilhelm Hammershøis "Interieur, Strandgade 30", das seine Frau in einem Raum der gemeinsamen Wohnung zeigt, die in Schwarz-Grau-Weiß gehalten und mit nur wenigen Möbel ausgestattet war. Durch dysfunktionale Objektplatzierung, leeren Vordergrund und abschließende Fassaden hinter den Fenstern wird im Bild wie in der Wohnung selbst ein bühnenhafter Charakter erzeugt. Das so nicht bespielbare Klavier und die Untätigkeit der Frau erzeugen eine Atmosphäre der Stille, Einsamkeit und des zeitlichen Stillstandes. Hammershøis' Vorgehen sei es - so Krämer - "den Betrachter mit dessen eigenen Erwartungshaltungen zu konfrontieren, ohne diese zu erfüllen." (177) Das ständig vorgeführte 'traute Heim' liefert keinen wirklichen Einblick in die Privatsphäre.
In Pierre Bonnards "Farniente" (1899), das Krämer unter dem Titel "Ort der Täuschung" behandelt, ist das "Interieur [...] durchdrungen von einer Metaphorik der Beunruhigung." (179) Die "Grenzen von Imagination und Wirklichkeit durchdringen [sich]" (180). Am Körper der Frau nimmt Krämer eine "modrig grüne Färbung" (180) wahr. Desorientiert durch eine indifferente Perspektive wird der Betrachter auch noch mit einem Vexierbild konfrontiert. Damit wird eine grundlegende Instabilität provoziert. Durch "Täuschung und Enttäuschung" wird das Sehen als "Mittel der Erkenntnisgewinnung in Frage gestellt" (204). Der faulige Charakter des Körpers macht die Frau zur "Femme fatale", deren zentral platzierte Scham nach Freud für neurotische Männer etwas Unheimliches ist. Dieses Moment wird durch die Doppeldeutigkeit widersprüchlicher Beobachtungen als einer grundlegenden Kategorie des Unheimlichen verstärkt. "Die Idee des schützenden Innenraumes [...] schlägt bei Bonnard um in eine bestürzende Angstphantasie [...]." (205)
Mit guten Kapitelüberleitungen gelingt Krämer trotz der Fülle von Unterkapiteln eine Vereinheitlichung des Textes. Neben der direkten Analyse der Bilder erfolgt stets auch eine Einordnung in kunsthistorische, soziale und politische Zusammenhänge, die das Buch zu einer informativen Quelle über den engeren Kontext hinaus machen. Besonders der Bezug zwischen Interieur und den Tendenzen im zeitgenössischen Theater ist ein wieder kehrendes Moment. Das Bühnenhafte wie auch Verfremdungen der Darstellung durch diffuse Licht- und Formgestaltungen steigern das Unheimliche der Gemälde. Das "traute Heim" wird zum Ort, wo sich die Schrecknisse von Gesellschaft und Individuen offenbaren. Bedauerlich ist nur, dass Krämer darauf verzichtet hat, die Erkenntnisse aus den Einzelanalysen am Ende des ansonsten hervorragenden Buches zusammenzufassen.
Andreas Baumerich