Marc Lynch: Voices of the New Arab Public. Iraq, Al-Jazeera, and Middle East Politics Today, New York: Columbia University Press 2006, XIV + 293 S., ISBN 978-0-231-13448-4, GBP 16,00
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Zentraler Gegenstand dieses Werkes ist der arabische Nachrichtensender al-Jazeera, der seit seiner Gründung 1996 die Hoffnung in der arabischen Welt auf eine freie Presse und demokratische Reformen verkörpert. Es handelt sich dabei um den Sender, der das Nachrichtenmonopol der nicht gerade liberalen arabischen Staaten gebrochen und als erster Sender in der arabischen Welt einen öffentlichen Raum geschaffen hat, in dem echte Diskussionen stattfinden konnten.
Im Westen bekannt wurde al-Jazeera spätestens mit dem Afghanistankrieg, weil er als einziger Sender Korrespondenten in das von den Taliban kontrollierte Gebiet schicken durfte, was ihn für die internationale Kriegsberichterstattung unumgänglich machte, ihm aber auch den Spitznamen "Jihad-TV" einbrachte.
Lynch wertet die beachtliche Menge empirischen Materials von 976 Polit-Talkshows von al-Jazeera zwischen 1999 und 2004 und 643 Meinungsartikel von al-Hayat und al-Quds al-Arabi zwischen 1999 und 2002 und untersucht dabei vor allem das Wesen, die Entstehung und den politischen Einfluss der durch al-Jazeera und andere moderne arabische Medien geprägten 'neuen arabischen Öffentlichkeit'.
Der Autor entscheidet sich bewusst für den Irak als Themenfokus und nicht etwa für den Palästina-Konflikt, weil das Irakthema in der arabischen Welt polarisierte (und somit für Diskussionsstoff sorgte) und weil die öffentliche Meinung dazu eine bestimmte Entwicklung durchlief, während die Palästinafrage einen über Jahrzehnte hinweg konstanten Konsens produzierte. Seine formale Konzentration auf politische Talkshows und Meinungsartikel und nicht etwa auf Nachrichtensendungen ist bedingt durch seine Definition der Öffentlichkeit als "das anhaltende, routinemäßige Vorbringen von nicht vorbestimmten Argumenten vor einem Publikum, zu Fragen, die viele angehen, mit der Möglichkeit für das Publikum zur Partizipation" (32). Dabei lässt sich Öffentlichkeit, so Lynch, einerseits von bloßer öffentlicher Meinung, anderseits von einer schon institutionalisierten zivilen Gesellschaft abgrenzen. Die arabische Öffentlichkeit selbst ist eine schwache Öffentlichkeit, weil sie zwar das Bewusstsein für eine gemeinsame Identität herstellen und die öffentliche Meinung prägen kann, aufgrund der undemokratischen Rahmenbedingungen in der arabischen Welt dies jedoch nicht in politische Resultate übersetzen kann, weil ihr jegliche Verbindung zu einer formalen politischen Institution fehlt. Daher sind die Demokratisierungspotenziale der arabischen Öffentlichkeit gegenüber dem Habermasschen Idealtypus schwach. Andererseits fällt aber auf, dass Politiker so argumentieren, als ob diese Öffentlichkeit wirklich eine Rolle spielen würde.
Es folgt ein chronologischer Überblick über die Vorgeschichte der arabischen Öffentlichkeit, von ihren Anfängen in den 1950er Jahren mit dem panarabischen Radiosender Ṣawt al-'Arab bis zu ihrem gegenwärtigen Zustand im Jahre 2004, wo trotz aller Versuche seitens der arabischen Staaten, die Informationen zu kontrollieren, alle in der arabischen Welt wichtigen Ideen und Positionen in den in Konkurrenz zu einander stehenden neuen Medien artikuliert werden können. Zu diesen Medien gehören auch internationale arabische Zeitungen, das Internet und Blogs, die mit ihrem eher eingeschränkten Publikums jedoch kaum Einfluss auf die Öffentlichkeit haben.
Im zweiten, aus den Kapiteln drei bis fünf bestehenden Abschnitt geht Lynch detailliert auf die einzelnen Stationen in der Entwicklung der neuen arabischen Öffentlichkeit ein vor dem Hintergrund des Irakthemas.
Anfang der 1990er Jahre, als es noch keine neue arabische Öffentlichkeit gab, waren die Medien staatlich kontrolliert und die privaten Sattelitensender apolitisch. Debatten gab es nur in der heimischen Presse. Diese waren meist von lokaler Reichweite und machten auch an den Landesgrenzen halt. Die in London erscheinende internationale arabische Presse wurde von einer verschwindend geringen Elite konsumiert und hatte kaum Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung. Nichtsdestotrotz lässt sich feststellen, dass es über die Jahre hinweg eine Entwicklung in der öffentlichen Meinung gab, die im Zusammenhang mit den UN-Sanktionen immer mehr das Leiden der irakischen Bevölkerung in den Mittelpunkt stellte. Von staatlicher Seite traute man sich nicht, diesen Stimmungsumschwung zu unterdrücken oder zu ignorieren; schließlich entschied man sich, die öffentliche Meinung zum Teil des offiziellen Diskurses zu machen.
Nach der Gründung von al-Jazeera und der Entstehung der neuen arabischen Öffentlichkeit wurde das Problemfeld Irak transarabisch diskutiert. Eine Meinungspluralität nicht gekannten Ausmaßes wurde in den Polit-Talkshows des Senders offenbar, wo sowohl anti- als auch pro-irakische Positionen zu Wort kamen, irakischen Offiziellen für sie ungewohnte, kritische Fragen gestellt wurden und wo auch die irakische Opposition repräsentiert war. Entscheidend für diese Phase ist, dass die arabische Öffentlichkeit das Leiden der Iraker und das der Palästinenser zu einem Narrativ des gesamtarabischen Leidens verband. Was, zusammen mit der schwindenden Glaubwürdigkeit der Waffeninspektionen und der zunehmenden Ablehnung der Sanktionen, dazu führtr, dass sogar notorisch pro-amerikanische Regime sich nicht dazu durchringen konnten, der US-Regierung öffentlich Unterstützung beim sich abzeichnenden Krieg zuzusagen.
Und so kam es auch, dass die arabische Öffentlichkeit am Vorabend der Irakinvasion von amerikanischer Seite zunehmend als Problem wahrgenommen und al-Jazeera, trotz seiner komplexen Berichterstattung, vorgeworfen wurde, das irakische Regime (und nach dessen Zusammenbruch die Aufständischen) zu unterstützen. Bei der arabischen Öffentlichkeit, für die sich die Irakfrage über die letzten Jahre zu einem Kernthema entwickelt hatte, genoss die amerikanische Politik keinerlei Glaubwürdigkeit. So stießen alle amerikanischen Argumente, angefangen vom Krieg gegen Terror bis hin zu der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen, auf Ablehnung. Bei al-Jazeera selbst kamen sowohl arabische als auch nichtarabische Kriegsbefürworter zu Wort, was dem Klischee widerspricht, der Sender habe antiamerikanische Propaganda betrieben. Auf der anderen Seite blieben in der arabischen Welt die zu dieser Zeit üblichen Massenprotestbewegungen aus, weil die arabischen Regime auf amerikanischen Druck hin jeglichen Widerspruch im Keim erstickten, indem sie zum Beispiel Oppositionelle festnehmen und foltern ließen oder Demonstrationen niederschlugen.
Bei einer Gegenüberstellung der Berichterstattung der westlichen Medien und der von al-Jazeera nach Ausbruch des Krieges lässt sich feststellen, dass, während die westlichen Nachrichten hochgradig von der amerikanischen und britischen Berichterstattung abhängig waren, die Berichte von al-Jazeera oft viel genauer waren und nicht selten diejenigen der kriegführenden Regierungen durch Live-Bilder als Lügen entlarvten. Infolgedessen gelangten einige Aufnahmen von al-Jazeera in westliche Sender, was die amerikanischen Bemühungen um Medienkontrolle zunichte machte. In den Diskussionssendungen, die nach dem Ende der Hauptkampfhandlungen stattfanden, zeichnete sich eine tief verunsicherte und verängstigte arabische Öffentlichkeit ab. Während der Diskussionsrunden konnte sich keine bestimmte Position durchsetzen, es gab viele Stimmen, die den Sturz Saddams guthießen und den Amerikanern dankten. Die Moderatoren unterbrachen nur selten die Anrufer und waren in ihren Kommentaren neutral. Mit der zunehmend unsicheren Lage im Irak jedoch und dem Scheitern der Besatzung, ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten, nahm die Enttäuschung der Öffentlichkeit zu.
Im letzten Abschnitt untersucht Lynch die Entwicklung der arabischen Öffentlichkeit nach dem Irakkrieg. Im Irak selbst konnte eine Öffentlichkeit, trotz Hunderten von Zeitungen und mehreren Fernsehkanälen, die nach Saddams Sturz gegründet wurden, aufgrund von strukturellen Mängeln und wegen der dramatischen Verschlechterung der Sicherheitslage, nicht entstehen. Positive Beispiele für eine zunehmend selbstbewusster operierende Öffentlichkeit waren die "Kefāya-Bewegung" (Ägyptisch für 'es reicht') in Ägypten und die Zedernrevolution im Libanon. Beide Bewegungen konnten einige Erfolge verbuchen. In Ägypten sah sich der Präsident gezwungen, einige inhaftierte Oppositionelle freizulassen und mehrparteiliche Präsidentenwahlen zuzulassen. Im Libanon führten die Massenproteste dazu, dass Syrien seine Truppen aus dem Land abzog.
Zu guter Letzt fasst der Autor noch einmal zusammen, dass es sich bei der arabischen Öffentlichkeit um eine echte Öffentlichkeit handelt, die selbstbewusst und offen vor einer breiten Audienz argumentiert, die jedoch aufgrund der fehlenden Möglichkeit, politische Ergebnisse direkt herbeizuführen, eine schwache Öffentlichkeit bleibt. Des Weiteren lässt er die Fragen offen, ob es sich bei dieser Öffentlichkeit um eine liberale oder populistische Öffentlichkeit handelt, mit dem Hinweis darauf, dass diese sich noch in der Entwicklung befinde. Und abschließend kritisiert er die amerikanischen Neokonservativen, die der Meinung sind, dass Araber sich nur durch Gewalt beeindrucken lassen und der Vernunft unzugänglich sind, und fordert die US-Regierung auf, die arabische Öffentlichkeit als Öffentlichkeit ernst zu nehmen und sich auf sie einzulassen, statt weiterhin zu versuchen, sich durch viel Geld eine Wunsch-Öffentlichkeit zu erschaffen.
Durch seine detaillierte Untersuchung von Diskussionssendungen, die im Sender al-Jazeera über einen Zeitraum von fünf Jahren ausgestrahlt wurden, ist es Marc Lynch gelungen zu zeigen, wie vielschichtig die öffentliche Meinung in der arabischen Welt und wie komplex ihre Entwicklung ist. Er widerlegt dadurch die von der US-Regierung lancierten Klischees, wonach die arabische Öffentlichkeit durch Fanatismus und irrationalen Antiamerikanismus gekennzeichnet sei. Gleichzeitig ist es seiner realistischen Herangehensweise zu verdanken, dass er einige wichtige Probleme, die mit der arabischen Öffentlichkeit zusammenhängen, nicht übersieht, etwa ihr schwaches Demokratisierungspotenzial oder ihre Unentschlossenheit zwischen Liberalismus und Populismus.
Zu bemängeln ist lediglich, dass der Autor das empirische Grundgerüst seiner Arbeit nicht zugänglich macht. So muss sich der Leser hier und da mit einigen Zitaten oder Widergaben von Sendungen zufrieden geben, ohne die Möglichkeit zu haben, sich selbst durch Einsicht in die große Datensammlung (oder zumindest durch Verweise auf diese) eine Meinung zu bilden. Vermeidbar wären auch einige Transkriptionsfehler gewesen, die leider schnell einen schlechten Eindruck hinterlassen können, wenn es um die Sprachkompetenz des Autors geht.
Diese kleinen Mängel beeinträchtigen jedoch die insgesamt sehr gute und fundierte Arbeit nicht.
Bachir Amroune