Merry E. Wiesner-Hanks: Early Modern Europe, 1450-1789 (= The Cambridge History of Europe; II), Cambridge: Cambridge University Press 2006, xiv + 495 S., ISBN 978-0-521-00521-0, GBP 19,99
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jürgen Finger / Benjamin Möckel (Hgg.): Ökonomie und Moral im langen 20. Jahrhundert. Eine Anthologie, Göttingen: Wallstein 2022
Reinhold Reith: Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit, München: Oldenbourg 2011
Anja Tack: Riss im Bild. Kunst und Künstler aus der DDR und die deutsche Vereinigung, Göttingen: Wallstein 2021
Das vorliegende Werk ist der erste von vier Bänden der "Cambridge History of Europe", die die europäische Geschichte von 600 n. Chr. bis zur Gegenwart abhandelt und dabei die Ergebnisse der Geschlechterforschung in die politische, die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte einfließen lassen soll. Eine jeden Band begleitende Website soll weitere Primär- und Sekundärmaterialien bereitstellen. Kurzum, ein großes und zeitgemäßes Programm für Lehrbücher, die sich an englischsprachige Studenten des ersten Jahres richten.
Der erste Band stammt von Merry Wiesner-Hanks, Geschichtsprofessorin an der Universität von Wisconsin-Milwaukee. Er zeugt einerseits von der umfangreichen Lehr- und Forschungstätigkeit der Verfasserin, deren Schwerpunkt die Geschlechterforschung ist. [1] Andererseits ist er didaktisch, sprachlich und technisch ansprechend gestaltet. Gerade die einfache, klare und manchmal lakonisch deutliche Sprache dürfte die studentische Zielgruppe ansprechen.
Das Werk gliedert sich in zehn Kapitel, in denen die Themen "Der Einzelne in der Gesellschaft", "Politik und Macht", "Kulturelles und intellektuelles Leben", "Religion, Reform und Festigung" sowie "Wirtschaft und Technik" zu den jeweils separat eingeführten Zeitblöcken 1450-1600 und 1600-1789 behandelt werden. Europa reicht hier nicht nur vom Atlantik bis zum Ural, sondern wird gelegentlich auch zusammen mit außereuropäischen Ländern betrachtet. Dies führt die Autorin beispielsweise auch zur islamischen Kultur und Geschichte (vgl. 396 ff.; nach den Ausführungen über das Judentum 393 ff.).
Zu jedem Kapitel gibt es anfangs die wichtigsten Daten und am Schluss Literaturhinweise. Dazwischen finden sich die passenden Karten, optisch herausgehobene Quellenzitate mit kurzen Einführungen sowie schwarz-weiße Abbildungen. Die entsprechend strukturierte Website (http:// www.cambridge.org/wiesnerhanks) ist gut und bisher aktuell. Sie bereichert die gedruckte Arbeit und führt - solange sie auch in Zukunft aktuell gehalten werden sollte - sowohl den Anfänger im Thema als auch den Experten weiter: Hier finden sich zusätzliche Quellen, eine große Link-Sammlung sowie weitere Abbildungen und sogar Audio-Quellen. Das Spektrum reicht von den Skizzen Leonardo da Vincis bis zur hier sogar hörbaren Musik Mozarts, wobei die Autorin auf die Digitalisate der British Library in London inklusive der Technik des "Turning the Pages" zurückgreifen kann.
Wiesner-Hanks strebt an, alle Aspekte menschlicher Existenz im Zeitraum von 1450 bis 1789 anzusprechen. Sie hat dabei ganz bewusst sowohl die sozial Benachteiligten als Gruppe - Kinder, Frauen, Angehörige der Unterschichten - als auch das einzelne Individuum im Auge. So schildert sie beispielsweise die damalige Wahrnehmung des individuellen Körpers, der Sexualität und der Lebenszyklen in der Zeit vor 1600 (47 ff.). Dabei scheut sie sich gelegentlich auch nicht, auf die aktuelle Forschungsdiskussion (z.B. über die Entwicklung der Familie; 72 ff.) einzugehen und die Bedeutung von besonderen Geschichtsdaten (z.B. 1521 Luther in Worms; 149 ff.) kritisch zu hinterfragen. Was eindeutig zu kurz kommt, sind verfassungs- und rechtsgeschichtliche Fragestellungen. Gewisse Ungleichgewichte erscheinen im Kapitel "Politik und Macht 1600-1789", wo Brandenburg-Preußen mit anderthalb Seiten, Russland mit vier, die britischen Inseln aber mit sechs Seiten bedacht werden (303 ff.).
Für die Zeit vor 1600 diskutiert die Autorin die Wege zur Nationenbildung und kommt wiederholt auf Jacob Burckhardt (80 ff.) und dessen Werk "Die Kultur der Renaissance in Italien" zu sprechen, wobei sie zu erkennen gibt, dass sie sehr wohl auch die deutschsprachige Geschichtsforschung kennt. Und genau hier muss der gravierende Nachteil dieses Werkes angesprochen werden, der vermutlich auf das Konto des Verlages geht: Es weist ausschließlich englischsprachige bzw. ins Englische übersetzte Quellen- und Sekundärwerke nach. Kein Werk in deutscher, französischer, italienischer oder spanischer Sprache wird genannt! Dadurch wird das Werk für den deutschen Studenten leider marginalisiert. Für die akademische Lehre in Deutschland und in anderen europäischen Ländern dürften hingegen die Quellen und Links auf der Website sehr interessant sein.
Alles in allem ein vorzügliches Lehrbuch für den englischsprachigen Studenten, der sich dabei jedoch stets bewusst sein sollte, dass es auch historische Forschung in Europa gab und gibt, deren Ergebnisse nicht in Englisch gedruckt vorliegen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Merry E. Wiesner-Hanks: Discovering the Global Past. A Look at the Evidence, Boston u.a. 1997; dieselbe: Women and Gender in Early Modern Europe, 2. Auflage, Cambridge u.a. 2000; dieselbe: Gender in History, Oxford 2001.
Ekkehard Henschke